In Momenten wie diesen hasste Baba es, dass ihr die starke Hand eines Vaters fehlte, die Jess zeigte, wo es langging. Inzwischen war er acht Jahre alt und ein munterer kleiner Bursche, dessen Temperament sie manchmal überforderte. Seit ein paar Monaten gehörte er der Kinder-Kolonne auf den Zuckerrohrfeldern an und schuftete schwer. Die harte Arbeit würde aus ihm eines Tages einen starken muskulösen Mann machen. Einen Sklaven, der allein schon aufgrund seiner Statur die Aufmerksamkeit der Backras auf sich ziehen würde – jener weißen Männer und Frauen, die sein Leben von Geburt an in der Hand hielten. Umso mehr ängstigte Baba sich, dass Jess etwas angestellt haben könnte. Die Sorge um ihren einzigen Sohn machte sie halb wahnsinnig. Dabei galt sie unter den Sklaven als eine starke, durchsetzungsfähige Frau, die sich selbst von ihren weißen Herren kaum etwas sagen ließ. Ihr Rücken war ganz vernarbt von all den Peitschenhieben, die sie im Laufe der Jahre für ihre Widerspenstigkeit kassiert hatte.
Dass man sie noch nicht auf dem Sklavenmarkt in Kingston verkauft hatte, war einzig einem Umstand zu verdanken, über den Baba selbst Estrelle gegenüber eisern Stillschweigen bewahrte: Ihr Master, Lord William Blake, ein perverser, hochnäsiger Widerling, verlangte von ihr, dass sie ihm auf die übelste Weise zu Willen sein musste. Seit er sie als junges Mädchen auf den Feldern erblickt hatte, verschleppte er sie regelmäßig in seine Jagdhütte und verlangte Dinge von ihr, die seine weiße Frau ihm nicht zu geben bereit war. Wie oft hatte er sie ans Bett gefesselt, geschlagen und war über sie hergefallen wie ein brunftiges Tier! Danach hatte er sie jedes Mal mit kostbaren Geschenken und teuren Stoffen verwöhnt. Wahrscheinlich, weil ihn das schlechte Gewissen plagte, denn als gläubiger Anglikaner, der jeden Sonntag in die Kirche lief, musste er wohl um sein Seelenheil fürchten, wenn er so abstoßende Sünden beging.
Doch geändert hatte er sich deshalb noch lange nicht. Zweimal hatte sie eine Fehlgeburt erlitten, weil er keine Rücksicht auf ihren Zustand genommen hatte. Aber Baba hatte das alles ausgehalten. Zum einen, weil ihr nichts anderes übrig blieb; zum anderen, weil sie durch seine Zuwendungen unter den restlichen Sklavinnen als etwas Besonderes galt. Sie besaß schöne Kleider, verfügte über besseres Essen und verbrachte mehr Zeit im weichen, frisch bezogenen Bett des weißen Herrn als auf den staubigen Zuckerrohrfeldern.
Als sie schließlich Jess zur Welt brachte, einen kleinen, widerstandsfähigen Kerl, dem die Grobheiten seines Vaters während der Schwangerschaft nichts anhaben konnten, war ihr Glück beinah perfekt. Jeder auf Redfield Hall ahnte wohl, dass Jess der Sohn des Masters war. Das konnte man nicht nur an seiner vergleichsweise hellen Hautfarbe erkennen. Auch sein schmales Gesicht war mehr das eines Europäers und hatte wenig gemein mit den Zügen der rein afrikanischen Bälger, die nicht selten mitten auf dem Feld das Licht der Welt erblickten.
Vom Tag seiner Geburt an hoffte Baba inständig, dass Lord William ihrem Sohn eines Tages die Freiheit schenken würde. Immerhin war Jess sein zweitgeborener Sohn – nach dem schmächtigen Edward, der fünf Jahre älter war und sich nicht eben bester Gesundheit erfreute. Auch Edwards Mutter, Lady Anne, eine vornehme Dame aus Europa, war seit der Schwangerschaft meistens zu krank und zu schwach gewesen, um ihre ehelichen Pflichten zu erfüllen. Und so hatte Baba ziemlich oft herhalten müssen, um ihren Herrn zu befriedigen. Doch seit die Lady nach Jahren der Unfruchtbarkeit nun zum zweiten Mal guter Hoffnung war, hatte sich sein Interesse an Baba merklich abgekühlt. Es hieß, er habe sich bereits ein anderes Mädchen gesucht, das williger war und weniger Forderungen stelle.
Doch nicht das beunruhigte Baba: Wenn Lady Anne ihrem Gatten einen zweiten männlichen Erben schenkte, würde Jess so unbedeutend für ihn werden wie ein Blatt im Wind. Mehrfach hatte Baba ihrem Master vorgehalten, dass Jess sein einziger Erbe wäre, falls der kränkliche Edward an einem Fieber stürbe. William war daraufhin sehr wütend geworden und hatte sie als elende Niggerhure beschimpft.
«Wegen deiner Herkunft und deiner Hautfarbe giltst du nicht als Mensch, sondern als Tier!», rief er aufgebracht. «Und deine Brut kann deshalb auch niemals Erbschaftsrechte erwerben.»
Als Baba ihn daraufhin als Sodomiten beschimpft hatte, der es mit Tieren trieb und den Gott für sein lästerliches Leben hart bestrafen würde, war er ihr an die Kehle gesprungen und hatte sie beinahe erwürgt. Seit jener Nacht hatte Baba nicht nur Angst um sich, sondern auch um ihren geliebten Jess. Je mehr sie jetzt darüber nachdachte, umso mehr schloss sich eine kalte Faust um ihr Herz. William Blake war zu allem fähig, wenn er jemanden hasste.
«Ich muss zu unserem Master», stieß Baba heiser hervor.
«Das kannst du nicht ernst meinen! Was ist, wenn er denkt, dass Jess davongelaufen ist?» Estrelle, deren Haut im Gegensatz zu Baba beinah so schwarz war wie das Gefieder eines Truthahngeiers, riss vor Entsetzen ihre kugelrunden Augen auf. «Sie werden den Jungen mit Bluthunden jagen!», warnte sie. «Die Bestien werden ihn zerfleischen, wenn sie ihn aufspüren! Nur Desdemona kann dir helfen. Sie kann in den Knochen lesen und sehen, wo sich dein Sohn befindet.»
«Aber sie lebt fast einen halben Tagesmarsch entfernt im Dorf der Maroon, und ich habe keine Erlaubnis, die Plantage zu verlassen.» Mit abwesendem Blick starrte Baba in das spärliche Licht einer Talgkerze.
«Es ist Nacht, Baba, und im Herrenhaus schlafen sie alle. Trevor liegt betrunken in seiner Aufseherhütte, und seine Kameraden spielen Karten oder amüsieren sich mit den jungen Sklavinnen. Wer also sollte bemerken, dass du fort bist? Wenn du dich beeilst, bist du zum ersten Glockenschlag morgen früh wieder da.»
Als Baba schwer keuchend an die Hütte der alten Desdemona klopfte, hatte sie einen zweistündigen Fußmarsch hinter sich. In gebückter Haltung war sie am Haupthaus von Redfield Hall vorbeigeschlichen und quer über die abgeernteten Zuckerrohrfelder der Nachbarplantage Rosehall gelaufen. Anschließend hatte sie sich durch den beinah undurchdringlichen Urwald gekämpft und sich mit ihrem gewaltigen Pflanzmesser den Weg frei geschlagen. Das dichte Blätterwerk und der bedeckte Himmel sorgten dafür, dass kaum Mondlicht durch sein üppiges Dach fiel. Die Wipfel über ihr rauschten und ächzten gewaltig, und streckenweise konnte sie den Weg nur erahnen. Doch immer wenn der starke Wind die Wolkendecke aufbrach, kam Baba schneller voran.
Sie war völlig außer Atem, als sie endlich die Hütte der alten Zauberin erreichte. Nach einigem Rumoren im Innern der Hütte öffnete die alte Desdemona die Tür. Ihr runzliges Gesicht vereinte Merkmale einer vergleichsweise hellhäutigen Indianerin mit denen eines kohlschwarzen Negers, den die Briten vor der Westküste Afrikas gefangen und auf diese Insel verschleppt hatten.
Desdemona wirkte so alt wie die Welt. Ihre blinden Augen überzog ein merkwürdiger weißer Schleier. Die alte Obeah-Frau behauptete stets, das Augenlicht sei ihr von den Göttern ihrer Vorfahren genommen worden, damit sie besser ins Jenseits schauen könne und nicht durch das trügerische Licht des Diesseits gestört werde.
Aufgrund ihrer mütterlichen Abstammung gehörte Desdemona zu den Maroon, einer Gruppe von ehemaligen Sklaven, die sich mit den Ureinwohnern der Insel vermischt hatten und bereits vor fast achtzig Jahren nach hartnäckigen Kämpfen mit den weißen Plantagenbesitzern und den Soldaten der britischen Krone ihre Freiheit erstritten hatten. Ihr Vater war ein Obeah-Mann gewesen, ein schwarzer Zauberer, der die Geheimnisse der Geister und Götter der Aschanti von Afrika mit übers Meer gebracht hatte.
«Komm herein, meine Tochter», sagte sie und schien kaum verwundert, dass Baba so spät in dieser stürmischen Nacht vor ihrer Hütte aufgetaucht war.
Erst gestern war die Schamanin im Dorf der Sklaven von Redfield Hall gewesen und hatte vor aller Augen einen Hahn geschlachtet, um die Geister der Unterwelt zu beschwören, damit bei Jess endlich das Fieber zurückging. Obwohl die weiße Regierung einem solchen Treiben kritisch gegenüberstand, wurde es zur Heilung von Kranken geduldet. Offenbar waren Desdemonas Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen, denn der Junge hatte am Morgen bereits einen halbwegs munteren Eindruck gemacht. Dennoch hatte Baba beim Aufseher um eine weitere Freistellung gebeten, die bei Kindern durchaus gewährt wurde. Ein unbekanntes Fieber sollte