Lena erwiderte nichts, sondern schaute konzentriert in den Spiegel. Zufrieden registrierte sie, dass sich ihre nackten, makellosen Schultern farblich kaum von den ausladenden Ballonärmeln des Ballkleides unterschieden, die seitlich an das tief sitzende Dekolleté angesetzt waren. Die Schneiderin hatte ihr den richtigen Rat gegeben und den Ausschnitt ein klein wenig sündiger gestaltet als vom Vater abgesegnet. Wie zwei dralle, rosige Äpfelchen lugten ihre Brüste nun neugierig unter dem Spitzensaum hervor, gerade so, als ob sie den Betrachter dazu animieren wollten, ihren Reifegrad zu prüfen. Mit der engen Taille und dem voluminösen, knöchellangen Rock, der übersät war mit zarten, rosafarbenen Schleifen, sah Lena aus wie ein frisch verpacktes Sahnebonbon.
«Dieser Edward Blake scheint eine wahrhaft gute Partie zu sein», plapperte Maggie munter weiter. «Ich habe gehört, er soll blendend aussehen. Groß, dunkelhaarig und blauäugig. Warum er mit beinahe dreißig Jahren wohl noch keine passende Ehefrau gefunden hat?» Maggie rieb sich das Kinn, während Lena in ihrem cremefarbenen Seidenkleid genervt mit den Augen rollte.
«Du hältst dich entschieden zu oft bei den Küchenmägden auf, meine Liebe», tadelte sie ihre Anstandsdame, die mit ihren fünfundzwanzig Jahren nur vier Jahre älter war als sie selbst. «Und das ruiniert auf Dauer nicht nur deine Figur, sondern auch dein Urteilsvermögen», fügte sie warnend hinzu, obwohl Maggie von einer allzu üppigen Figur so weit entfernt war wie Hamburg von Amerika.
Manchmal verglich Lena ihre Gouvernante, deren vollständiger Name Margareth Elisabeth Blumenroth lautete, eher mit einer umherschwirrenden Fledermaus. Vor allem, wenn sie wie jetzt mit ihren schwarzen, aufgesteckten Locken, dem anthrazitfarbenen Häubchen und einem gleichfarbigen Seidentaftkleid wie ein unruhiger Geist aufgeregt um sie herumwuselte.
Maggie tat nicht selten so, als ob sie jeden Freier höchstpersönlich davon abschrecken müsste, auch nur einen Blick auf ihre Schutzbefohlene zu werfen. Besonders dann, wenn ihr sonst so strenger Mund den potenziellen Bewerber mit einem säuerlichen Lächeln bedachte und sie dabei einen halb abgebrochenen Schneidezahn zur Schau stellte, der zu allem Übel erheblich dunkler war als seine durchaus ansehnlichen Nachbarn.
Der armen Maggie fehlt es wirklich an jeglicher Anmut, dachte Lena und seufzte. Andererseits eignete sie sich aufgrund ihres Auftretens geradezu hervorragend als Hüterin weiblicher Unschuld. Denn ihre Sinne waren geschärft wie die eines Luchses. Ihr entging nicht die kleinste Kleinigkeit. Wenn sie eine sich nähernde, männliche Person prüfend unter die Lupe nahm, beobachtete sie sie unauffällig, aber doch so intensiv, als ob sie eine Naturforscherin wäre, die ein seltenes Insekt aus jedem nur möglichen Winkel betrachtete. Umso missgelaunter war sie, wenn ihre Qualitäten bei gesellschaftlichen Ereignissen wie der Einladung zum Ball nicht gefragt waren.
«Dein letzter Auftritt ohne mich in der Loge des Covent Garden Theatre muss bei der Countess ja einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben», bemerkte Maggie spitz. «Warum sonst glaubst du, dass sie ausgerechnet dich als Tanzpartnerin für diesen schwerreichen Zuckerbaron ausgesucht hat.»
Maggies Blick glitt zu einem gigantischen, mit Blattgold verzierten Weidenkorb, den Huxley am Vormittag von einem Boten entgegengenommen und auf einem Podest neben dem Frisiertisch aufgestellt hatte.
«Und wenn ich erst all dieses Obst sehe!», fuhr Maggie mit einem theatralischen Augenaufschlag fort. «Ob er die Früchte extra aus seiner Heimat Jamaika mitgebracht hat, um den hiesigen Damen zu imponieren?»
Der Butler hatte den Korb wie eine kostbare Opfergabe auf einem Altar arrangiert. Anstelle von Heiligenfiguren drängte sich jedoch eine bunte Gesellschaft von exotischen Früchten darin, die es in dieser Form selbst in den vornehmsten Läden am Piccadilly Circus nicht gab, schon gar nicht zu dieser Jahreszeit: Ananas, Guaven, Papayas, Mangos, Brotfrüchte, Bananen, Orangen, Trauben, Pfirsiche und einiges mehr. Für manches wusste selbst Maggie keinen Namen, obwohl sie eine ausgesuchte Gouvernantenschule besucht hatte, in der auch exotische Speisen auf dem Lehrplan gestanden hatten.
Jamaika!, dachte Lena verzückt. Was für ein verlockender Gedanke, einmal dort hinreisen zu dürfen! Allein der Klang dieses Namens berauschte sie.
Unter ihrer schüchternen Fassade steckte wahrlich eine Entdeckernatur. Und obwohl sie sich ihrem Vater gegenüber stets brav und verschlossen gab, sehnte sie sich in Wahrheit nach dem ganz großen Abenteuer. Erneut studierte sie das Geschenk. Die Früchte waren säuberlich geschält und als Ganzes karamellisiert worden, damit sie in Konsistenz, Geschmack und Farbe möglichst lange haltbar blieben. Verpackt in buntes Seidenpapier, das sich wie ein kostbares Kleid um jede einzelne Köstlichkeit schmiegte, handelte es sich um eine unvergleichliche Versuchung, gegen die ein Paradiesapfel aus Baxters Süßwarenladen an der James Street eher bescheiden ausfiel.
Maggies Überlegung traf zu, dachte Lena bei sich. Es war wirklich merkwürdig, dass die Countess of Lieven, die als Patronin dem Komitee für die Auswahl der Debütantinnen vorsaß, ausgerechnet sie auserwählt hatte, beim ersten Tanzvergnügen der Saison teilnehmen zu dürfen. Und dass sie Lena, ohne zu zögern, einem der begehrtesten Junggesellen ganz Londons als Tanzpartnerin zuerkannt hatte, war ein weiteres Wunder.
Seit geraumer Zeit organisierte die Countess alle Bälle des sogenannten ‹Ton› – der Londoner Oberschicht, der nicht nur Adlige, sondern auch Politiker, reiche Geschäftsleute und Künstler angehörten. Die exklusiven Gäste mussten allesamt über gewisse Verbindungen verfügen, damit ihnen der Zutritt zu diesem Olymp der Eitelkeiten überhaupt erst gewährt wurde.
Obwohl niemand etwas dergleichen erwähnt hatte, war Lena ziemlich sicher, dass ihr Vater hinter der Entscheidung der Countess steckte, sie einzuladen.
Als Vorsitzender eines großen deutschen Handelskonsortiums pflegte Konsul Johann Friedrich Alexander Huvstedt Verbindungen in die höchsten politischen Kreise Englands. Und obgleich er normalerweise kein Freund der Tanzvergnügen war, hatte er seine einzige Tochter in letzter Zeit verdächtig häufig gefragt, ob sie nicht langsam das richtige Alter habe, einen passenden Gemahl für sich zu wählen. Es war anzunehmen, dass ihr Vater, der sich regelmäßig zu einer Partie Whist mit dem russischen Botschafter in London im vornehmen Athenaeum Club traf, nun die Verbindung zu dessen Ehefrau genutzt hatte. Jeder in London wusste, dass ausschließlich die Countess of Lieven die Macht besaß, eine junge Frau wie Lena für den anstehenden Debütantinnen-Ball in die Liste betuchter Heiratskandidatinnen aufnehmen zu lassen.
Erneut griff Lena nach der Karte, die in dem mehr als großzügigen Obst-Arrangement gesteckt hatte und nun vor ihr auf dem Tischchen lag. Verehrte Helena, stand dort schön geschwungen in blauer Tinte geschrieben, ich kann es kaum erwarten, Ihnen endlich persönlich vorgestellt zu werden! Mit hochachtungsvollem Gruß an Sie und Ihren werten Herrn Vater – Ihr ergebenster Diener: Sir Edward William Montgomery Blake, Sohn von Lord William Blake, dem 7. Baronet of Clearwater Castle.
«Ja, der Korb ist wirklich eine Pracht», bestätigte Lena und legte die Karte zurück in das großzügige Geschenk.
Beim Blick in den Spiegel verzog sie ihr Gesicht zu einer wenig vornehmen Grimasse. Die Frisierdame hatte ihr Haar über den Ohren zu einem harmonischen Reigen aus Korkenzieherlocken und winzigen, weißen Seidenrosen zusammengesteckt, wobei sie gekonnt hier und da ein paar zierliche Löckchen herauszupfte.
«Da muss noch ein Hauch mehr Puder ins Gesicht und ein wenig mehr Cochenille auf die Lippen», befahl sie der Frau. «Sir Edward muss ja nicht gleich wissen, wie aufgeregt ich bin, wenn ich ihm vorgestellt werde», erklärte sie an Maggie gerichtet.
Die Frisierdame machte sich sofort daran, Lenas Wunsch nachzukommen, und nahm dann einen hellbraunen Wachsstift zur Hand, um Lenas grüne Augen zu betonen. Maggie behauptete stets, sie hätten die Farbe des Indischen Ozeans. Und sie musste es schließlich wissen, war Maggie doch als Tochter einer deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie im