Immer wieder spielte sich in seinem Kopf die Szene ab. Der Mann, der wieder aufstand, ihn verfluchte, dann herumwirbelte und fiel. Das Blut …
Oliver.
Bagleys Stimme klang kühl in seinen Ohren. Er ignorierte die KI. Warum war da so viel Blut? Er betrachtete seine Hände. Vollkommen rot. Sein Verstand drehte sich im Kreis. Es war so rot. Warum war es so rot? Gab es nicht einen Grund – Arterienblut, vielleicht … seine Gedanken schweiften ab, bis ihn Bagley zurückholte.
Oliver. Du musst gehen. Lincolns Security nähert sich.
Olly schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, ich kann nicht, er ist …«
Tot. Verstorben. Seine Funktion ist beendet. Ihm kann ich nicht mehr helfen, dir aber schon. Steh auf.
Olly schaute auf den Boden. Der Mann sah aus wie eine Stoffpuppe, ganz schlaff und zusammengeschrumpft. Als wäre alles, was ihn ausgemacht hatte, herausgerissen worden, sodass nur eine leere Hülle zurückblieb. Er lehnte sich zurück und versuchte zu denken. Leute schrien. Rannten. Der menschliche Instinkt – zumindest der erste – war, so weit wie möglich von Schwierigkeiten wegzukommen. Aber das galt nicht für alle. Ein paar Männer eilten auf ihn zu, wahrscheinlich Sicherheitsleute in Zivilkleidung. Sie drängten sich durch die Menge und sahen nicht freundlich aus.
Sein Optik vibrierte und machte ihn auf Aufnahmegeräte in der Nähe aufmerksam. Nachrichtendrohnen, Optik-Kameras, alle richteten sich auf ihn. Schlimmer noch, der Klang von Sirenen wurde immer lauter und durchdrang den Nebel der Panik.
»Fuck. Fuck, fuck, fuck.«
Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Hinfort mit dir, junger Oliver.
»Okay«, sagte er heiser, kam zitternd auf die Beine und berührte mit blutbeflecktem Finger sein Optik, während er gleichzeitig sein Rad aufhob. Sein Geist bewegte sich schneller als sein Körper, isolierte die Probleme und löste sie der Reihe nach. Eine Ex-Freundin von ihm, die psychiatrische Krankenschwester gewesen war, hatte das reflexive Kompartmentalisierung genannt, was immer das bedeutete.
Zuerst die Nachrichtendrohnen. Heutzutage benutzten alle Agenturen das gleiche Netzwerk – alle benutzten heutzutage das gleiche Netzwerk. Wenn man eine Drohne hackte, hackte man sie alle. Also tat er es genau das und löschte die Feeds der letzten fünf Minuten. Die Optiks kamen als Nächstes dran. Sie waren leichter. DedSec hatte die Kunst, die Optiks sehen zu lassen, was immer sie wollten, perfektioniert. Die Gesichtserkennungssoftware würde keinen Treffer finden, oder genauer gesagt, zu viele Treffer. Er war so gut wie unsichtbar – nur ein weiterer blasser Typ in einem schäbigen Hoodie und einer Jogginghose.
Polizisten nähern sich von Bethnal Green. Acht Sekunden.
Die Polizei war eine andere Sache. Sie würde er nicht so leicht täuschen können. Er musste weg. Es nach Limehouse schaffen. Sich verstecken, bis er die lokalen Feeds vollständig löschen konnte. In ihm stieg eine andere Art Panik auf – nicht lähmend, sondern drängend.
Dir bleiben sechs Sekunden, bis die Polizei eintrifft. Nutze sie.
Limehouse. Einen Moment später war er auf seinem Rad und drei Sekunden danach verschwunden. Als der erste Streifenwagen auftauchte, befand sich Olly bereits auf der anderen Seite der Wohnanlage und raste so schnell er konnte Richtung Osten.
»Was war das?«, zischte er, als er um eine scharfe Kurve bog. »Was ist da gerade passiert?«
Unbekannt. Ich habe mich in die gestörten Feeds geklinkt – gute Arbeit übrigens – und analysiere gerade die Daten. Der Schuss hatte etwas Seltsames an sich.
»Was bedeutet das?«
Noch nichts. Fahr weiter. Lass das meine Sorge sein.
»Gerne.«
Oh, du hast immer noch das Paket, oder?
Ein kurzer Anflug von Panik erfasste ihn und er klopfte hektisch seine Jacke ab. Er spürte den Umschlag und was er enthielt und seufzte erleichtert auf. »Ja, hab ich«, sagte er. Zumindest das hatte er nicht verbockt.
Guter Mann. Leg einen Gang zu, Oliver. Es geht ziemlich heiß her.
Sarah Lincoln war bei Minute drei ihrer fünfminütigen Rede über Zusammenhalt und die stolze, wenn auch wechselhafte Geschichte der Vallance-Road-Gemeinschaft, als sie die Schreie hörte. Unerschütterlich sprach sie noch dreißig Sekunden weiter, bevor plötzlich die Hölle losbrach und ihr sorgsam geplanter Auftritt in Chaos versank.
Zuerst wusste sie gar nicht, was sie gehört hatte. Sie hielt es für eine Fehlzündung. Erst als sie aus dem Augenwinkel sah, wie ein Mann zu Boden ging, wurde ihr klar, was passiert war. Oder zumindest glaubte sie, es zu wissen. Jemand beugte sich über ihn – hatte die Person ihn erschossen? Von hier aus, begraben unter ihren Personenschützern, war es unmöglich zu sagen. »Runter! Runter von mir!«, fauchte sie und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
»Bleiben Sie unten, Ma’am«, zischte einer von ihnen zurück und stieß sie zu Boden. Zumindest versuchte er es.
»Wenn man mich hätte treffen wollen, hätte man mich erwischt. Und jetzt runter von mir!« Trotz der Proteste ihrer Sicherheitsleute stand sie auf und sah sich um. Es war das pure Chaos – Leute rannten umher, ihr Team versuchte, sich seinen Weg zu dem Angeschossenen zu bahnen.
»Ich denke, wir … wir sollten hier weg«, sagte Hannah und packte sie am Arm. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Stimme zittrig. »Jemand schießt!«
Sarah schüttelte sie ab. »Aber nicht auf mich! Rufen Sie einen Krankenwagen.« Sie schnappte sich das Mikro und hob ihre Hand. »Bitte bewahren Sie Ruhe. Beruhigen Sie sich!« Niemand hörte auf sie, aber darum ging es auch nicht. Die Nachrichtendrohnen über ihren Köpfen nahmen alles auf.
Einen Moment später hörte sie die ersten Sirenen. Sie hielt ihren Blick auf den Angeschossenen gerichtet, auf den Mann, der vor ihm kniete – durchwühlte er seine Taschen? Nein. Er versuchte zu helfen. Ein besorgter Bürger. Ihre Leute näherten sich ihm, wer er auch sein mochte.
Es war alles so gut gelaufen. Das war das Ärgerliche daran. Die Rede war eine ihrer besten gewesen, fand sie – gleichzeitig tröstlich, informativ, aber ohne jegliche echte Substanz. Ein beruhigendes Zitat war ein sicheres Zitat, perfekt für zusammenhanglose Soundbites.
Am Anfang ihrer Karriere hatte sie den Fehler gemacht, die Aufwieglerin zu spielen. Sie war zu jung gewesen, zu unerfahren, um zu verstehen, wie es wirkte, wenn eine große Frau somalischer Abstammung ihre Kollegen kritisierte. Als ihr klar geworden war, was daraus gemacht wurde, war sie gezwungen gewesen, ihren Idealismus neu zu bewerten – ihn in etwas politisch Zweckdienlicheres zu verwandeln. Es war nicht schwer gewesen. Sie war immer schon eine Pragmatikerin gewesen.
Idealisten kamen an die Macht. Politiker blieben an der Macht. Und Sarah Lincoln hatte damals entschieden, dass sie lieber eine Politikerin sein wollte. Und als Politikerin wusste sie, dass ein Bild mehr wert war als tausend Worte. Und das Bild einer Abgeordneten, die verzweifelt versuchte, eine panische Menge zu beruhigen – nun … das waren mindestens zweitausend Worte.
Ihre Leute erreichten den Angeschossenen, als der erste Streifenwagen mit quietschenden Reifen und blinkendem Blaulicht zum Stehen kam. Weitere trafen wenige Augenblicke später ein. Der besorgte Bürger war längst verschwunden. Sie fragte sich, wohin, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Je weniger Leute, mit denen sie das Rampenlicht teilen musste, desto besser. Zumindest redete sie sich das ein, als sich einer ihrer Leute neben den Angeschossenen kniete. Sarah ging auf sie zu, trotz Hannahs Protesten.
Der Personenschützer hatte seinen Blazer ausgezogen, faltete ihn zusammen und