Es gab bei jeder Transaktion Sand im Getriebe, ganz egal wie reibungslos der Deal wirkte. Und die Sache mit Albion hatte mehr Sand als üblich. Sie hatte sich genau zweimal mit Nigel Cass, dem derzeitigen Kopf von Albion und Sohn des Gründers, getroffen. Er war ihr immer wie ein Schläger vorgekommen, der den Gentleman spielte. Ein Söldner, der sich einen Krieg kaufen wollte.
Sie kannte sich mit Krieg aus, auch wenn sie selbst nie einen erlebt hatte. Ihre Eltern hatten zu einer christlichen Minderheit in Somalia gehört und waren während des Bürgerkriegs nach London geflohen, um der Verfolgung zu entgehen und neu anzufangen. Hier hatten sie eine andere Art Konflikt vorgefunden – nicht so brutal vielleicht, aber genauso gefährlich.
Glücklicherweise hatten die beiden ein wenig Geld gehabt und ihr Vater hatte noch mehr verdient. Er hatte hart gearbeitet und das auch seiner Tochter beigebracht. Ihre Mutter hatte sie andere Dinge gelehrt. Wie man richtig saß, atmete, interessiert wirkte. Ihr Vater hatte Sarah ihre Arbeitsmoral mitgegeben und ihre Mutter die Fähigkeiten, die sie brauchte, um sie am gewinnbringendsten einzusetzen.
Manchmal sah sie aus dem Fenster und dachte an das, was ihre Eltern über den Bürgerkrieg erzählt hatten. Wie schnell alles auseinandergefallen war. Wenn die Dinge aus dem Ruder liefen, musste man schnell handeln, um nicht vom Chaos überwältigt zu werden. Resignation tötete so sicher wie eine Kugel. Sie hatte nicht vor, sich mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge abzufinden.
Sie machte sich eine Notiz, ihr Gesuch um eine Besichtigung der vorläufigen Albion-Zentrale in Limehouse Basin zu erneuern. Sie hatte dieses Gesuch seit ihrem letzten Treffen mit Cass schon dreimal gestellt und war jedes Mal geflissentlich ignoriert worden. Sie tippte mit ihrem Kugelschreiber auf die Zeitungen und dachte nach. Sie aktivierte ihr Optik. »Hannah?«
Ihre Assistentin steckte ihren Kopf durch die Tür. Sarah sah auf. »Wissen wir schon, warum unsere paramilitärischen Freunde am Tatort herumgeschnüffelt haben?«
»Noch nicht. In letzter Zeit geben sich alle wahnsinnig zugeknöpft.«
»Hmm. Wahrscheinlich haben sie Angst, den Deal zu versauen.« Sarah lehnte sich noch weiter zurück und musterte die alten Wasserflecken an der Decke. Wenn Albion nervös wurde, umso besser. Cass wollte diesen Deal unbedingt abschließen. Und verzweifelte Männer waren oft offen für Kompromisse. »Schicken Sie noch ein Gesuch um eine Besichtigung ihrer Einrichtung. Betonen Sie, dass die Presse ausgeschlossen wird.« Sie hielt inne. »Hat Winston schon angerufen?«
»Zweimal in der letzten Stunde.«
Sarah lächelte. »Gut. Wenn er noch mal anruft, sagen Sie ihm, dass er uns in einem netten Lokal einen Tisch reservieren soll – aber hier in der Nähe. Am besten auf neutralem Boden.«
Hannah runzelte die Stirn. »Sie wollen mit ihm Mittag essen? In der Öffentlichkeit?«
»Ich muss seine Stimmung einschätzen. Ich will sehen, ob er mein Gesuch um eine Besichtigung unterstützt. Ich weiß, dass es ihn selbst in den Fingern juckt, sich das anzusehen. Wenn wir uns zusammenschließen, kommen wir vielleicht endlich weiter.« Sarah balancierte den Kugelschreiber auf ihrem Zeigefinger, bevor sie ihn in die Luft warf und wieder auffing. »Und machen Sie einen Termin im Revier von Bethnal Green. Ich will meine Zeugenaussage persönlich machen und herausfinden, wie die Ermittlungen laufen.«
»Darf ich fragen, warum?«
Sarah legte den Stift hin und drehte sich wieder zum Fenster um. »Nennen Sie es Neugier.«
4: REDQUEEN
Liz Burton sah den Mann, der sich Alex Dempsey nannte, zum dritten Mal in ebenso viel Minuten sterben. Er wirbelte herum und ging zu Boden, während auf seiner Brust ein roter Krater aufriss. Herumwirbeln und fallen, herumwirbeln und fallen. Immer wieder. Jedes Mal, wenn er auf dem Boden aufschlug, spielte sie die Szene erneut ab und hoffte, betete, dass sie diesmal anders ablief. Dass er diesmal nicht fallen würde.
Der Tag hatte gut begonnen. Es lief alles wie geschmiert. Sie hatte viele neue Eisen im Feuer. Die gesammelten Daten über ein halbes Dutzend potenzieller Rekruten liefen in einer endlosen Kette von Banalitäten über ihr Display. Ein entrechteter Anarcho-Sozialist mit radikalen Ansichten und einem Einstellungsproblem. Ein traurig dreinblickender Türsteher, der Voltaire las und gern Faschisten schlug. Ein paranoides Genie, das aus Draht und Spucke ein RFID-Implantat bauen konnte, wenn er nicht gerade darüber schwadronierte, dass die Royals alle Reptiloide waren. Selbst ein ehemaliger Spesnaz-Offizier auf der Suche nach moralischer Klarheit war dabei.
DedSec würde sie alle willkommen heißen. Früher oder später würde jeder mit einem Gewissen oder einem persönlichen Interesse Mitglied des Widerstands sein. So sah Liz es zumindest. Eine Wundertütenarmee der Ungehörten und Ungewaschenen. Genug, um Hobbes’ Leviathan zu Fall zu bringen.
Aber an so etwas dachte sie momentan gar nicht. In diesem Moment dachte sie darüber nach, jemanden zu töten. Und genau darum drückte sie dem Neuen gerade die Mündung ihrer Px4 an den Hinterkopf. Nicht fest, gerade genug, um ihn wissen zu lassen, dass sie da war. »Olly, richtig?«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Dreh dich um.«
»Liz«, begann Krish. Er klang nervös. Krish spielte gern den harten Kerl, aber Gewalt – echte Gewalt – machte ihm eine Scheißangst. So war es mit den meisten hier im Raum. Von ihnen allen hatte nur Liz bis jetzt eine echte Waffe abgefeuert. Und sie war gerade wütend genug, um es wieder zu tun.
Sie sah den jüngeren Mann an. »Halt die Klappe, Krish. Ich will mit unserem neuen Rekruten plaudern. Dreh dich um, Olly.«
Olly tat mit erhobenen Händen, was ihm gesagt worden war. Er war jünger, als sie gedacht hatte. Praktisch noch ein Kind. Schmal und abgemagert, als hätte er mehr als ein paar Mahlzeiten verpasst. Leger angezogen, keine offensichtlichen Tätowierungen oder Narben. Nur ein weiterer Proll, der einen auf starker Mann machte.
Ihn nur anzusehen sorgte dafür, dass sie sich alt fühlte. Sie ging auf die Vierzig zu und auch wenn sie sich in Form hielt, gab es Tage, an denen sie spüren konnte, wie all diese Erfahrungen sie zu erdrücken drohten wie die Hand Gottes. Heute war einer dieser Tage.
Sie musterte Olly von Kopf bis Fuß und schnaubte. »Wie alt bist du?«, fragte sie verächtlich.
Kein besonders beeindruckendes Exemplar, gebe ich zu. Aber das ist kein Grund, ihn zu erschießen, Elizabeth.
»Wenn ich deine Meinung hören will, Bagley, frage ich danach.« Die KI nervte sie. Die falsche Freundlichkeit seiner Persönlichkeit irritierte sie aus Gründen, die sie nur schwer in Worte fassen konnte. Sie war zu alt, um etwas zu vertrauen, dass auf dem ctOS-Netzwerk basierte.
Ein bisschen empfindlich heute, was?
»Klappe«, sagte sie scharf. »Ich musste mir gerade ansehen, wie ein Freund von mir auf offener Straße erschossen wurde.« Noch während sie es aussprach, dachte sie darüber nach. Alex war kein Freund gewesen, nicht wirklich. Etwas mehr, etwas weniger. Sie hatte nie versucht, es zu benennen – und jetzt war es zu spät.
Alex hatte eigentlich gar nicht zu DedSec gepasst. Ein kleiner Dieb, der in seinem ganzen Leben nie auch nur einen politischen Gedanken gehabt hatte. Die Art Mensch, die fand, dass Proteste gut fürs Geschäft waren – was stimmte, wenn das Geschäft Taschen- und Identitätsdiebstahl war.
Aber er hatte gute Ohren und ein gutes Gedächtnis gehabt. Er lauschte und gab weiter, was er gehört hatte, wenn sie fragte. Und das alles nur für den Preis eines Drinks oder vielleicht einer Mahlzeit. Es gab schlimmere Leute, mit denen man zu Abend essen konnte. Alex hatte lustig sein können, wenn er gewollt hatte.
Doch jetzt würde es keine Witze mehr geben. Es blieb nichts übrig außer ein bisschen mehr Wut, die sich zu der übrigen gesellte. Sie zuckte mit der Px4 und Olly riss die Augen auf. »Du warst dort. Ich will wissen, warum.«