Hannah war das zuerst gar nicht aufgefallen. Sie war viel zu beschäftigt gewesen. Die persönliche Assistentin einer Parlamentsabgeordneten zu sein bedeutete, dass sie rund um die Uhr in Bereitschaft zu sein hatte. Und Sarah konnte sehr charmant, sogar freundlich sein, wenn sie wollte.
Doch unter der sanften Fassade verbarg sich ein stählerner Wille. Und obwohl sie in diesem Bezirk geboren worden war, schien ihr egal zu sein, was aus den Menschen hier wurde, solange es sie nicht schlecht dastehen ließ. Und das fiel den Leuten langsam auf.
Darum waren sie heute hergekommen – und darum hatte Hannah Gelegenheit für die Übergabe gehabt. Eine Petition machte die Runde und Sarah hatte sich darauf gestürzt wie ein Tiger auf eine angekettete Ziege. Sie hatte spontan diese Versammlung einberufen, um die Protestler zu beruhigen. Um ihnen zu versichern, dass man sie nicht gewaltsam aus ihrem Zuhause werfen würde. Zumindest noch nicht.
Das Hannahs Meinung nach eigentliche Problem bestand darin, dass sich Sarah noch nicht entschieden hatte, ob sie den Albion-Deal unterstützen sollte oder nicht. Wenn sie es tat, würden dem Bezirk – und ihrem Wahlkreis – große Veränderungen bevorstehen und vielleicht auch ein großes wirtschaftliches Wachstum. Als Gegenleistung mussten sie nur ihre Seele verkaufen.
Ihr Optik vibrierte, als es sich automatisch mit dem ihrer Arbeitgeberin synchronisierte. Sie sah auf. Die Sozialwohnungen von Lister House und seinem Nachbarn Treves House waren modernistische Gebäude, die aus einer traurigen Grünfläche aufragten. Eines bestand aus einer langen Reihe von Arbeiterhäusern, das andere war ein hoher Block mit sauberen Linien und ebenmäßigen Proportionen. Doch beide sahen inzwischen ausgesprochen heruntergekommen aus. Der Gemeinderat schwankte zwischen freundlicher Vernachlässigung und unverblümter Feindseligkeit und den Mietern drohte seit fast dreißig Jahren immer wieder die Zwangsräumung.
Bäume und Hecken hinter schwarzen Metallzäunen markierten die Grenzen des Grundstücks, und Autos säumten die Straßen. Die Leute versammelten sich bereits im Gemeinschaftsbereich zwischen den Wohnblöcken und warteten gespannt darauf, was ihre Abgeordnete zu sagen hatte.
Sarahs schwarze Brubeck-Limo parkte in einer Entfernung, wo ihr nichts passieren konnte. Hannah wich der Menge aus und schlängelte sich an einer unauffälligen Absperrkette vorbei zum Wagen. Sie stieg hinten ein, wo Lincoln in klimatisiertem Komfort saß und auf ihrem Luxus-Optik in Roségold Newsfeeds durchscrollte.
»Sie sind spät dran«, sagte die Abgeordnete, ohne von ihrem Gerät aufzublicken. »Ich dachte schon, ich würde das ohne Sie machen müssen.«
»Tut mir leid.« Hannah hielt kurz inne. »Das muss traumatisch für Sie gewesen sein.«
Sarah schnaubte, sah aber immer noch nicht auf. »Vorsicht. Ich könnte Ihnen das übel nehmen und Sie feuern.«
Hannah war nicht besonders besorgt. »Aber das werden Sie nicht. Fünf persönliche Assistenten in ebenso vielen Jahren. Jemand könnte die falschen Schlüsse ziehen.«
»Da ist was dran. Was halten Sie von dieser TOAN-Sache?«
»Wir haben noch nicht zugesagt.«
»Gut. Ich kann mir nichts Langweiligeres vorstellen als die Teilnahme an einer Technikkonferenz.« Sie sah auf und wechselte erneut das Thema. »Was war denn so wichtig, dass Sie bis zur Brick Lane mussten?«
»Ich hab mich mit einer Freundin getroffen«, sagte Hannah. Sie war an Sarahs abrupte Themenwechsel gewöhnt. Ihre Chefin machte das absichtlich, um ihr Gegenüber aus dem Konzept zu bringen. Da Hannah das wusste, hatte sie ihre Geschichte vor dem Spiegel geübt. Bevor Sarah fragen konnte, fügte sie hinzu: »Sie arbeitet für Natha.«
Lincolns Blick schoss nach oben. »Und warum in aller Welt haben Sie sich mit jemandem getroffen, der für den … ehrenwerten Abgeordneten … von Tower Hamlets North arbeitet?«, gurrte sie.
Hannah unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte genau gewusst, welche Reaktion die Erwähnung des anderen Abgeordneten haben würde. Winston Natha entstammte ebenfalls der zweiten Generation von Einwanderern, auch wenn seine Eltern nicht aus Dusa Marreb, sondern aus Kalkutta kamen. Dennoch hatten sie mehr gemeinsam, als Sarah lieb war. »Es heißt, dass Natha den Albion-Deal unterstützen wird«, erzählte sie.
Sarah setzte sich so abrupt auf, dass sie fast gegen das Dach der Limousine gestoßen wäre. Sie war eine große Frau, größer als Hannah. Größer als die meisten Männer, besonders wenn sie Absätze trug – was sie so oft wie möglich tat. Sie war schlank, elegant und ihre Kleidung kostete mehr als die meisten ihrer Wähler in einem Jahr verdienten. Sie hätte in ihrer Jugend Model gewesen sein können. Ihre Haare waren zu einem festen Dutt am Hinterkopf frisiert. Sie ließ ihr Optik in ihrer Jacketttasche verschwinden und starrte ihre Assistentin an. »Was hat er gesagt?«
»Er findet, dass sie einen, und ich zitiere, ›verdammt guten Job in Tower Hamlets machen‹.«
Sarah runzelte die Stirn. »Und das wissen Sie sicher?«
»Zu siebzig Prozent«, sagte Hannah. Sie musste vorsichtig sein. Sarah war nicht dumm – selbst wenn sie von Natha das Schlimmste denken wollte, würde sie nach einer unabhängigen Bestätigung suchen.
»Das reicht mir nicht«, entgegnete Sarah mit einem kleinen Lächeln. »Auch wenn ich es dem kleinen Wiesel zutrauen würde. Er würde Sauerstoff privatisieren, wenn er damit durchkommen würde.« Sie hielt inne, eine Hand auf dem Türgriff. »Dennoch sollten wir das im Hinterkopf behalten. Wenn Natha dafür ist, werden sich genau die falschen Leute auf ihn stürzen.«
Hannah entspannte sich. »Ich dachte, Sie würden das wissen wollen.«
Sarah lachte leise. »Wenn das mit der Politik nicht klappt, wird vielleicht noch eine Superspionin aus Ihnen.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. »Kommen Sie. Ich kann unsere Wähler schon knurren hören. Bringen wir diesen wacal von einem Tag hinter uns.«
2: WHITECHAPEL
Olly fuhr schnell und hatte mit einem Auge sein Display im Blick. Laut seinem Optik waren es noch zwölf Minuten bis Limehouse. Die Erfahrung sagte ihm, dass es wahrscheinlich eher zwanzig Minuten werden würden, je nachdem, wie schlimm der Verkehr auf der Vallance Road war. Er schwenkte auf den Bürgersteig. Nachdem er die Enge der Brick Lane hinter sich gelassen hatte, konnte er auch wieder die Kurierdrohnen von Parcel Fox sehen, die wie unbeholfene Tauben herabschossen.
Die Drohnen waren der Grund, warum sein Job in Gefahr war. Sie erledigten die gleichen Aufgaben wie er in der Hälfte der Zeit und mussten nicht bezahlt werden. Schon bald würde jeder die verdammten Dinger benutzen und wo würde er dann bleiben? Genau dort, wo er gewesen war, bevor er durch pures Glück an diesen Job gekommen war. Vor DedSec.
Er dachte an Hannah. Gehörte sie auch zu DedSec? Unmöglich zu sagen. Er könnte natürlich fragen, aber er konnte sich die Antwort schon denken. Besser kein Risiko eingehen. Auch wenn es ihm schwerfiel, seine Neugier zu unterdrücken. Er war immer schon neugierig gewesen und hatte Dinge auseinandergenommen, um zu sehen, wie sie funktionierten. Telefone, Computer, Fernseher. Als Kind hatte er Mechaniker werden wollen.
Doch die Zeiten änderten sich. Und man musste sich mit ihnen ändern – oder man war erledigt.
London lernte das gerade auf die harte Tour.
Olly bremste scharf und wich nur knapp einer Barrikade aus. Seit den Redundancy Riots gab es viele davon in Tower Hamlets. Jede Menge Proteste, hauptsächlich gegen Immigration. Die Stadt – das Land – war wie ein Kochtopf, der schon viel zu lange auf dem Herd stand. Noch war er nicht übergekocht, aber es würde nicht mehr lange dauern.
Er freute sich nicht darauf. Als alles auseinanderzufallen begonnen hatte, hatte er noch Windeln getragen, und seitdem war es nicht besser geworden. Wenn