Nancy saß mit gekreuzten Armen am Tisch und schien sich für den Besuch nicht sonderlich zu interessieren, als das Geflüster einer Männerstimme an ihr Ohr schlug. Sofort riß sie ihren Hut und Schal ab und warf beides unter den Tisch. Wie sich der Jude umwandte, klagte sie mit matter Stimme über Hitze.
"Ach", murmelte der Jude, "es ist der Mann, den ich vorhin erwartete. Er kommt die Treppe herab. Sprechen Sie, wenn er da ist, nicht von dem Gelde, Nancy. Er wird nicht lange bleiben – keine zehn Minuten!"
Den Zeigefinger an die Lippen legend, ging der Jude mit der Kerze an die Tür und erreichte sie gleichzeitig mit dem Besucher, der rasch ins Zimmer trat und dicht vor dem Mädchen stand, ehe er es bemerkte.
Es war Monks.
"Eine von meinen Schülerinnen", erklärte Fagin, als er sah, daß Monks beim Anblick des fremden Gesichts zurückfuhr. "Bleiben Sie ruhig sitzen, Nancy."
Diese rückte näher an den Tisch und blickte mit gleiche gültiger Miene nach Monks hin, dann wandte sie die Augen ab. Als sich Monks aber zu dem Juden umdrehte, schielte sie beobachtend zu ihm hin, daß ein dritter kaum geglaubt hätte, daß diese beiden Blicke von derselben Person wären.
"Neuigkeiten?" fragte der Jude.
"Große."
"Und – und – gute?" fragte Fagin mit langsamer Stimme, als fürchtete er, den anderen durch große zur Schau getragene Zuversicht zu reizen.
"Jedenfalls keine schlechten", versetzte Monks lächelnd. "Diesmal war ich fix genug. Doch ich möchte mit Euch allein sprechen."
Das Mädchen rückte noch näher an den Tisch heran und tat so, als ob sie den Wink nicht verstand. Fagin, der wohl fürchtete, sie möge von dem Geld sprechen, wenn er sie hinausgehen ließ, zeigte nach oben und ging mit Monks aus dem Zimmer.
"Nur nicht wieder in das verfluchte Loch, wo wir neulich waren", hörte Nancy noch den Mann sagen, als beide die Treppe hinaufstiegen. Fagin lachte und gab eine Antwort, die sie nicht mehr vernehmen konnte. Aus dem Knarren der Dielen schloß sie, daß er seinen würdigen Freund nach dem zweiten Stocke hinaufgeführt hatte.
Kaum waren die Fußtritte der beiden verhallt, als das Mädchen seine Schuhe auszog, aus dem Zimmer eilte und mit unglaublicher Geschwindigkeit geräuschlos die Treppe hinaufflog. Oben verlor sie sich im Dunkel.
Das Zimmer blieb über eine Viertelstunde leer. Dann kam Nancy mit gespensterhaften Schritten wieder zurück, und gleich darauf hörte man auch die beiden Männer herunterkommen. Monks verließ sogleich das Haus, und der Jude holte das Geld. Als er zurückkam, rückte sich das Mädchen gerade ihren Hut zurecht, als ob sie sich zum Gehen vorbereite.
"Donnerwetter, Nancy", rief Fagin erschrocken, als er das Licht auf den Tisch setzte, "wie blaß Sie aussehen!"
"Blaß?" sagte das Mädchen, ihn fest ansehend.
"Ganz furchtbar. Was ist denn los?"
"Nichts. Aber die dumpfe Luft hier im Zimmer ist angreifend. – Gebt schon das Geld, damit ich fort kann."
Fagin zählte ihr, mit einem Seufzer bei jedem Stück, das Geld in die Hand, worauf sie sich mit einem einfachen "Gute Nacht!" trennten.
Als sie auf der Straße war, setzte sie sich auf eine Türschwelle nieder und schien ganz erschöpft zu sein, als ob sie unfähig wäre, ihren Weg fortzusetzen. Plötzlich erhob sie sich aber und lief in entgegengesetzter Richtung von Sikes' Wohnung davon. Endlich hielt sie atemlos inne, um neu Luft zu schöpfen. Mit einemmal schien ihr die Besinnung zu kommen, daß sie unfähig war, das, was sie vorhatte, auszuführen. Sie brach in Tränen aus und rang die Hände.
Möglich, daß die Tränen ihr Erleichterung verschafften, oder daß sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage erkannte – genug, sie kehrte wieder um und eilte, um die verlorene Zeit wieder einzubringen, mit großer Hast nach Sikes' Wohnung.
Herr Sikes bemerkte ihre Aufregung nicht und fragte bloß, ob sie das Geld hätte. Auf ihre bejahende Antwort setzte er den unterbrochenen Schlaf fort.
Es war ein Glück für Nancy, daß das Geld Herrn Sikes in den Stand setzte, sich am andern Tage ganz mit Essen und Trinken zu beschäftigen. Das hatte eine so wohltätige Wirkung auf seine Stimmung, daß er weder Lust noch Neigung spürte, sich um ihr Benehmen zu bekümmern. Sein luchsäugiger Freund Fagin würde aber wahrscheinlich ihre Unrast auf den ersten Blick entdeckt haben und auf die Vermutung gekommen sein, daß ihr Aufgeregtsein auf irgendeinen gefährlichen Schritt hindeutete, zu dessen Ausführung sie sich erst nach einem inneren harten Kampf entschließen konnte. Freilich – Herr Sikes hatte nicht diesen scharfen Blick, wie denn auch einem so rauhen Burschen zartere Gefühlsäußerungen nicht leicht auffallen konnten.
Je näher der Abend heranrückte, desto mehr wuchs die Unruhe des Mädchens. Als sie am Bette des Einbrechers saß und wartete, daß er sich in den Schlaf trinken möge, lag eine so ungewöhnliche Blässe auf ihren Wangen, und in ihren Augen blitzte ein solches Feuer, daß es selbst Sikes auffallen mußte.
Dieser, durch das Fieber geschwächt, trank den Schnaps mit heißem Wasser vermischt, damit er weniger aufregend wirke. Er hatte Nancy gerade sein Glas gereicht, damit sie es zum dritten oder vierten Male wieder fülle, als er des Mädchens Blässe gewahrte.
"Zum Henker!" schrie er und richtete sich im Bette auf, "du siehst ja wie eine wandelnde Leiche aus. Was ist dir?"
"Was mir ist?" sagte das Mädchen. "Nichts! Warum starrst du mich so an?"
"Was ist das wieder für ein Blödsinn?" tobte Sikes, dabei faßte er sie am Arm und schüttelte sie derb. "Was ist los? Was bedeutet das? Wo sind deine Gedanken?"
"Bei gar manchem, Bill", versetzte sie schaudernd und preßte die Hände an die Augen. "Aber, lieber Gott, wäs ist da komisch dran?"
Der Ton erzwungener Heiterkeit, in dem sie die letzten Worte sprach, schien auf den Einbrecher einen tieferen Eindruck zu machen als ihr starrer Blick vorher.
"Ich will dir mal sagen, was es ist", sagte Sikes.
"Falls du nicht vom Fieber angesteckt bist und es jetzt selbst kriegst, so führst du etwas Schlimmes im Schilde. Du wirst doch nicht hingehen – nein, Gott verdamm mich, so etwas kannst du nicht tun!"
"Was tun?" fragte das Mädchen.
"Es gibt", murmelte Sikes vor sich hin und richtete seinen Blick fest auf sie, "es gibt auf der ganzen Welt kein treueres und zuverlässigeres Mädel, sonst hätte ich ihr schon vor drei Monaten den Hals abgeschnitten. Sie hat das Fieber – das ist alles."
Nachdem er sich so selbst beruhigt hatte, leerte Sikes das Glas und verlangte unter dem üblichen Gefluche seine Arznei. Das Mädchen sprang schnell auf und goß, ihm den Rücken zukehrend, die Medizin in eine Tasse, die er sogleich austrank.
"Nun", sagte der Räuber, "komm, setze dich zu mir, zeige mir aber dein gewöhnliches Gesicht, wenn du nicht willst, daß ich es dir in einer Weise verändere, die dir das Wiedererkennen schwer macht."
Nancy gehorchte, und Sikes, der ihre Hand fest umklammerte, legte sich auf die Kissen zurück und heftete den Blick auf sie. Nachdem er sich einigemal unruhig hin und her gewälzt hatte, fielen ihm schließlich die Augen zu, und seine Hand öffnete sich; der Arm fiel schlaff an seiner Seite nieder, und der Einbrecher lag wie in tiefer Betäubung da.
"Der Schlaftrunk hat endlich gewirkt", murmelte sie, "doch vielleicht ist es jetzt schon zu spät."
Sie nahm rasch ihren Hut und Schal, sah sich aber alle Augenblicke ängstlich um, als ob sie trotz des Schlaftrunks jede Sekunde den Druck von Sikes' schwerer Hand zu fühlen fürchte. Dann beugte sie sich langsam über den Schläfer und küßte seine Lippen, worauf sie schnell das Zimmer verließ und aus dem Hause schlüpfte.