"Was kann mir dann aber Ihre Erzählung nutzen? Man muß doch diesem Geheimnis auf den Grund gehen. Wie können wir denn sonst Oliver helfen, dem zu nützen Ihnen doch so viel am Herzen liegt?"
"Sie kennen vielleicht irgendeinen Ihnen wohlwollenden Herrn, dem Sie das Geheimnis anvertrauen können und der Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen will", sagte Nancy.
"Aber wo kann ich Sie wiedersehen, wenn es nötig sein sollte. Ich will nicht wissen, wo diese schrecklichen Menschen hausen, aber wo wird man Sie zu einer bestimmten Zeit wieder treffen können, etwa auf einem Spaziergange?"
"Wollen Sie mir versprechen, daß mein Geheimnis bei Ihnen aufs strengste bewahrt wird, und daß Sie allein oder nur mit dem Herrn, dem Sie Ihr Vertrauen geschenkt haben, kommen wollen, und daß ich in keiner Weise beobachtet oder verfolgt werde?" fragte Nancy.
"Ich verspreche es Ihnen feierlichst" , antwortete Rosa.
'"So will ich, wenn ich am Leben bleibe, jeden Sonntag zwischen elf und zwölf Uhr nachts auf der Londoner Brücke auf und ab gehen!"
"Bleiben Sie noch einen Augenblick", bat Rosa, als Nancy rasch zur Tür ging. "Denken Sie noch einmal über Ihre Lage nach und erwägen Sie, welche günstige Gelegenheit Ihnen geboten wird, sie hoffnungsvoll zu ändern. Sie haben einen Anspruch auf meinen Dank nicht nur als Überbringerin so wichtiger Nachrichten, sondern auch als eine Unglückliche, die sich selbst verloren hat. Sie wollen zu diesem Diebesgesindel und diesem Verbrecher zurückgehen, trotzdem ein einziges Wort Sie retten kann? Ach, ist denn in Ihrem Herzen keine Saite, die ich zum Klingen bringen kann? Gibt es gar nichts, was gegen diese Verblendung mir zur Hilfe kommen kann?"
"Wenn junge Damen, so schön und gut und liebenswürdig wie Sie, ihr Herz verschenken", versetzte Nancy mit fester Stimme, "so macht die Liebe sie zu Opfern fähig – selbst wenn sie eine Heimat, Freunde, Anbeter haben – kurz alles, was sie sich nur wünschen können. Wenn aber solche wie ich, die kein sichereres Dach als den Deckel ihres Sarges und in der Stunde der Krankheit und des Todes keinen anderen Freund haben als die Krankenhauswärterin, ihr liebebedürftiges Herz an einen Mann hängen und ihm darin die Stelle der Eltern, der Heimat und der Freunde einräumen – wer kann da hoffen, solche Geschöpfe zu heilen? Bemitleiden Sie uns, daß uns nur dieses einzige weibliche Gefühl geblieben ist und daß es, statt unser Stolz und Trost zu sein, durch Gottes schwere Richterhand eine Quelle neuer Leiden und neuen Fluches geworden ist."
"Sie werden aber doch etwas Geld von mir annehmen", sagte Rosa nach einer Pause, "daß Sie bis zu der Zeit wenigstens, wo wir uns wiedersehen, ohne Schande leben können."
"Keinen Pfennig!" erwiderte Nancy und hob die Hand abwehrend.
"Verschließen Sie Ihr Herz doch nicht gegen alle meine Bemühungen, Ihnen zu helfen", sagte Rosa näher tretend. "Ich möchte Ihnen gern dienlich sein."
"Sie könnten mir den größten Dienst erweisen, Fräulein", versetzte Nancy und rang die Hände, "wenn Sie mir mit einemmal das Leben nehmen würden, denn der Gedanke an das, was ich bin, ist mir heute nacht mehr und schmerzlicher zum Bewußtsein gekommen als je. Auch wäre es ein Trost, nicht in derselben Hölle zu sterben, in der ich gelebt habe. Gott segne Sie, mein liebes Fräulein, und er möge Ihnen so viel Glück spenden, als ich Schande auf mein Haupt geladen habe!"
Mit diesen Worten und laut schluchzend verließ die Unglückliche das Zimmer. Aufs höchste ergriffen sank Rosa Maylie auf einen Stuhl und versuchte ihre wirren Gedanken zu sammeln. Die Unterredung erschien ihr mehr ein flüchtiger Traum zu sein als Wirklichkeit.
Einundvierzigstes Kapitel
Enthält neue Entdeckungen und zeigt, daß Überraschungen gleich Unglücksfällen selten allein kommen
Rosas Lage war in der Tat eine ungemein schwierige, denn während sie glühend wünschte, das Geheimnis zu lüften, das Olivers Geschichte umgab, durfte sie das Vertrauen nicht mißbrauchen, welches ihr das unglückliche Geschöpf geschenkt hatte. Nancys Benehmen und ihre Worte hatten Rosas Herz gerührt und zu der Liebe für ihren jungen Schützling gesellte sich der kaum weniger heiße Wunsch, die Verlorene einem besseren Leben wieder zu gewinnen.
Die Damen hatten die Absicht, nur drei Tage in London zu bleiben und dann auf einige Wochen nach einem Seebad abzureisen. Heute war der erste Tag um. Was konnte man in den nächsten achtundvierzig Stunden erreichen? Und wie konnte sie einen Aufschub der Reise erlangen, ohne Verdacht zu erregen?
Herr Losberne war bei ihnen auf Besuch und wollte auch noch die beiden nächsten Tage bleiben. Aber Rosa kannte die Heftigkeit dieses Ehrenmannes zu gut und sah seinen Zorn deutlich voraus, den er über die Person ergießen würde, die das Werkzeug zu Olivers Entführung war. Sie konnte ihm deshalb ihr Geheimnis nicht anvertrauen, wenigstens nicht so lange, bis ihre Fürsprache zugunsten Nancys von einer anderen Seite unterstützt würde.
Aus denselben Gründen beobachtete sie auch gegen Frau Maylie die größte Vorsicht, da deren erster Schritt sicher eine Besprechung der Angelegenheit mit dem würdigen Doktor gewesen wäre. Ebenso war auch nicht daran zu denken, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen, selbst wenn sie gewußt hätte, wie man das anzustellen hat. Einmal kam ihr der Gedanke, Harry um Beistand zu ersuchen, aber in der Erinnerung an den letzten Abschied schien es ihr unwürdig, ihn herzubitten, da er es vielleicht über sich gewonnen hatte, sie zu vergessen und sich in der Ferne glücklich fühlte. Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie daran dachte.
Rosa brachte eine schlaflose Nacht zu, da sie nicht wußte, wie sie handeln sollte und zu keinem Entschluß kommen konnte. Als sie am anderen Morgen aufs neue mit sich zu Rate gegangen war, beschloß sie in ihrer Verzweiflung, doch Harry Maylie in ihr Geheimnis einzuweihen.
"Es ist ihm vielleicht schmerzlich, wieder zurückzukommen", dachte sie, "aber wie schmerzlich wird es erst für mich sein! Vielleicht kommt er aber gar nicht und macht die Sache schriftlich ab. Oder er kommt und meidet mich ängstlich, wie er es tat, als er abreiste. Ich hatte es damals nicht erwartet, aber es war für uns beide besser."
Rosa ließ die Feder fallen und wandte sich ab, als sollte selbst das Papier, dem sie ihre Botschaft anzuvertrauen gedachte, nicht Zeuge ihrer Tränen sein.
Sie hatte die Feder wohl fünfzigmal ergriffen und ebensooft wieder weggelegt, und ohne eine Zeile zu schreiben, hin und her überlegt, wie sie ihren Brief anfangen sollte, als Oliver, der, mit Herrn Giles als Leibwächter, in der Stadt spazieren gegangen war, in großer Aufregung ins Zimmer stürzte.
"Warum siehst du so verstört aus?" fragte Rosa, ihm entgegengehend.
"Ich weiß nicht warum, mir ist die Kehle wie zugeschnürt", antwortete der Junge. "Lieber Gott, denken zu dürfen, daß ich ihn doch noch sehen soll und Ihnen nun beweisen kann, wie ich in allem die Wahrheit gesprochen habe!"
"Ich zweifelte nie, daß du uns etwas anderes als die Wahrheit sagtest, liebes Kind. Aber was ist? Von wem sprichst du?"
"Ich habe den Herrn wiedergesehen", antwortete Oliver ganz aufgeregt, so daß er kaum die Worte herausbringen konnte, Den Herrn, der so gut zu mir war. Herrn Brownlow, von dem wir so oft gesprochen haben."
"Wo?"
"Er stieg aus einer Kutsche und ging in ein Haus", erwiderte Oliver, und Tränen der Freude rannen ihm über die Backen. "Ich habe nicht mit ihm gesprochen – ich konnte nicht mit ihm reden, denn er sah mich nicht. Ich zitterte so, daß ich nicht imstande war, auf ihn zuzueilen. Aber Giles hatte sich erkundigt, ob er dort wohne, und man bejahte es. Sehen Sie hier –", damit holte er ein Stück Papier aus der Tasche – "hier wohnt er, ich will sogleich hingehen. Ach, wie werde ich mich freuen, wenn ich ihn wiedersehe und seine Stimme höre."
Rosa nahm das Papier und las Cravenstraße, Strand. Sie entschloß sich sofort, diese Entdeckung auszunutzen.
"Schnell", sagte sie, "laß eine Droschke kommen