"Wo würde wohl morgen früh der Leichnam des Menschen sein, den man jetzt hier hinunterwürfe", fragte Monks und ließ die Laterne in dem dunklen Schlunde hin und her schwingen.
"Zwölf Meilen weiter unten im Flusse und obendrein in Stücke zerrissen", meinte Bumble, bei dem bloßen Gedanken schon zitternd.
Monks holte nun das Beutelchen mit dem Medaillon und Trauring aus seiner Tasche und befestigte ein Bleistück von einem alten Flaschenzug daran, der zerbrochen in einer Ecke lag. Dann ließ er es hinunterfallen, und man hörte ein schwaches Plätschern, als es ins Wasser glitt.
Alle drei blickten einander an und schienen freier zu atmen.
"So!" sagte Monks, indem er die Falltür wieder schloß. "Wenn die See auch wieder ihre Toten herausgibt, wie in den Büchern steht, Gold und Silber – und daher auch diesen Plunder wird sie wohl für sich behalten. – Wir haben uns nichts mehr zu sagen und können die Sitzung aufheben. Aber daß Sie mir reinen Mund halten", fuhr er mit drohender Gebärde gegen Bumble fort. "Wegen Ihres Weibes bin ich unbesorgt."
"Sie können sich auf mich verlassen, junger Mann", entgegnete Herr Bumble, der sich allmählich unter vielen höflichen Verbeugungen der Leiter näherte. "Um unser aller willen. Sie wissen ja, es könnte mir ebenso nachteilig werden wie den anderen."
"Das ist mir für Sie lieb zu hören. Nun zünden Sie Ihre Laterne an und machen Sie, daß Sie so schnell als möglich von hier fortkommen."
Es war ein Glück, daß die Unterhaltung hier endete, sonst wäre Herr Bumble, der sich bereits bis auf die Ent,fernung von sechs Zoll nach der Leiter hinkomplimentiert hatte, kopfüber in den unteren Raum hinabgestürzt. Er zündete eine Laterne an und stieg stillschweigend hinunter, während Frau Bumble nachfolgte. Monks kam hinterdrein, nachdem er noch einige Augenblicke gehorcht hatte. Sie gingen langsam und vorsichtig über den Hausflur, und Monks entriegelte und öffnete leise die Tür. Mit einem einfachen Kopfnicken verabschiedete sich das wackere Ehepaar von ihrem geheimnisvollen Bekannten und trat in die Nacht und den Regen hinaus.
Sie hatten sich kaum entfernt, als Monks einen Jungen rief, der irgendwo versteckt gewesen sein mußte, ihn mit dem Licht vorangehen hieß und nach dem Gemach zurückkehrte, das er eben verlassen hatte.
Neununddreißigstes Kapitel
In dem wieder alte Bekannte erscheinen, und das zeigt, wie Monks und der Jude ihre würdigen Köpfe zusammenstecken
Am Abend des folgenden Tages erwachte Herr William Sikes aus seinem Schlummer und fragte noch schlaftrunken, wieviel Uhr es sei.
Die Stube, in der er lag, war keine von denen, die er vor dem Einbruch bewohnt hatte, aber sie befand sich in demselben Stadtviertel und war nicht weit von seiner früheren Wohnung. Es war ein kümmerliches, kleines Gemach, das nur durch ein einziges kleines Dachfenster Licht erhielt. Auch fehlte es nicht an anderen Zeichen, daß der Ehrenmann in letzter Zeit ziemlich heruntergekommen war. Das wenige Hausgerät, der Mangel aller Bequemlichkeit und sein abgemagertes Aussehen bestätigten es.
Der Räuber lag in einen weißen Mantel gehüllt auf dem Bette und zeigte ein Gesicht, dessen krankhafte Blässe durch den eine Woche alten, schwarzen Stoppelbart nicht verschönert wurde. Der Hund lag neben dem Bette, bald aufmerksam seinen Herrn anblickend, bald die Ohren spitzend und knurrend, wenn irgendein Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte. Am Fenster saß mit der Ausbesserung einer dem Einbrecher gehörigen Weste beschäftigt, eine blasse, durch Entbehrungen und Nachtwachen so heruntergekommene Frauensperson, daß man in ihr nicht leicht die frühere Nancy wiedererkannt haben würde, wenn nicht ihre Stimme gewesen wäre, die den alten Klang hatte.
"Es hat vor kurzem sieben geschlagen", sagte das Mädchen. "Wie geht es dir heute abend, Bill?"
"So schwach wie Wasser" erwiderte er mit einem kräftigen Fluch. "Reich mir mal die Hand, damit ich aus diesem verwünschten Bette komme."
Die Krankheit hatte Sikes nicht milder gestimmt, denn als ihm das Mädchen aufhalf und ihn nach einem Stuhl geleitete, fluchte er über ihre Ungeschicklichkeit und prügelte sie.
"Heulst du schon wieder!" fuhr Sikes sie an. "Laß bloß das Geplärre bleiben. Schere dich zum Teufel, wenn du nichts Besseres tun kannst. Verstanden?"
Jawohl", sagte das Mädchen, das Gesicht zur Seite wendend, und zwang sich zu einem Lächeln. "Was hast du nur wieder?"
"Hast dich eines Besseren besonnen", brummte Sikes, als er noch eine in ihrem Auge hängende Träne gewahrte.
"Um so besser für dich."
"Ach, du kannst heute abend nicht schlecht zu mir sein", sagte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter.
"Warum nicht?" brüllte er.
"So viele Nächte", sagte das Mädchen mit einem Anflug von weiblicher Zärtlichkeit, die ihrer Stimme eine gewisse Weichheit verlieh, "so viele Nächte habe ich dich wie ein Kind geduldig gewartet und gepflegt und sehe dich heute zum ersten Male wieder bei Besinnung. Du würdest mich nicht so behandelt haben wie eben, wenn du daran gedacht hättest, nicht wahr? Bitte sage, du hättest es nicht getan!"
"Nun ja, ich hätte es wahrscheinlich nicht getan, aber, zum Donnerwetter, da fängt sie schon wieder zu heulen an."
"Es ist nichts", sagte Nancy und warf sich in einen Stuhl. "Laß mir einen Augenblick Ruhe, und es ist gleich vorüber."
"Was wird vorüber sein?" fragte Sikes wütend. "Was ist das wieder für ein Blödsinn. Steh auf und tue etwas, aber bleib mir mit deinem Weiberquatsch vom Leibe!"
Zu jeder anderen Zeit würde diese Aufforderung und der Ton, in dem sie gesprochen wurde, die gewünschte Wirkung gehabt haben. Aber das Mädchen war in der Tat abgespannt und ganz erschöpft, ließ den Kopf auf die Stuhllehne fallen und wurde ohnmächtig, ehe noch Herr Sikes einige passende Flüche ausstoßen konnte, mit denen er bei ähnlichen Gelegenheiten seine Drohungen auszuschmücken pflegte. Da er nicht wußte, was in diesem Falle zu tun sei, denn Nancys hysterische Anfälle waren meistens von jener heftigen Art, die der Kranke gewöhnlich ohne sonderlichen Beistand selbst durchkämpft – so versuchte er es zuerst mit ein bißchen Gotteslästerung, und als sich diese Behandlungsweise als ganz unwirksam erwies, rief er nach Hilfe.
"Was ist los, Freundchen?" fragte der Jude, in die Stube tretend.
"Da, hilf dem Mädchen gefälligst", schrie Sikes ungeduldig. "Steh nicht da, um zu quatschen und mich anzugrinsen!"
Mit einem Ausruf der Überraschung beeilte sich Fagin, dem Mädchen Beistand zu leisten, während Herr Jack Dawkins (sonst auch der Gannef genannt), welcher nach seinem würdigen Freunde ins Zimmer getreten war, schnell ein Bündel, das er in der Hand trug, auf die Erde warf und Herrn Karl Bates, der ihm auf dem Fuße folgte, eine Flasche aus der Hand riß. In einem Augenblick entkorkte er sie mit den Zähnen und goß der Kranken einen Teil ihres Inhalts in den Mund, nachdem er denselben vorher selbst gekostet hatte, um eine etwaige Verwechslung zu verhüten.
"Bring ihr mit dem Blasebalg etwas frische Luft unter die Nase", sagte der Gannef zu Karl Bates. "Und Sie, Fagin, reiben ihr die Handflächen, während Bill ihr das Mieder aufmacht!"
Diese vereint angewandten Belebungsmittel übten bald die gewünschte Wirkung aus. Das Mädchen kam allmählich wieder zu sich, wankte nach einem Stuhl am Bett, verbarg ihr Gesicht in den Kissen und überließ es Herrn Sikes, die Neuankömmlinge gebührend zu empfangen.
"Donnerwetter, welch böser Wind hat dich hierher verschlagen?" fragte er Fagin.
"Kein böser Wind, mein Lieber", antwortete der Jude, "denn schlimme Winde blasen niemand etwas Gutes zu. Ich habe Euch aber etwas Gutes mitgebracht, das Euer Herz erfreuen wird. Gannef, mach doch mal das Bündel auf und gib Bill die Kleinigkeiten, wofür