Was konnte er anders tun? Er blickte niedergeschlagen um sich und schlich von dannen. Als er die Tür erreicht hatte; verwandelte sich das Kichern der Weiber in ein schrilles Gelächter. Das war zu viel. Er war in ihren Augen herabgewürdigt, er hatte Ansehen und Achtung sogar bei den Armenhäuslern verloren. Von der Höhe eines Gemeindedieners war er zur tiefsten Tiefe eines Pantoffelhelden herabgestürzt.
"Und das alles in zwei Monaten", klagte Bumble sich selber. "Vor nicht mehr als zwei Monaten war ich nicht nur mein eigener Herr, sondern auch Herr über das ganze Armenhaus, – und nun?"
Es war zuviel. Er gab dem Jungen eine Ohrfeige, der ihm die Tür öffnete und trat zerstreut auf die Straße. Er ging zuerst planlos straßauf, straßab, bis sich sein erster Kummer gelegt hatte, dadurch war er aber durstig geworden. Er kam an einer Anzahl von Wirtshäusern vorbei und blieb endlich bei einer Kneipe stehen, deren Gastzimmer mit Ausnahme eines Gastes leer war, wie er sich vorher durch einen Blick durchs Fenster überzeugt hatte. Es fing gerade tüchtig zu regnen an, und dies bestimmte ihn, hier einzukehren. Er forderte ein Glas Branntwein.
Der einzige Gast außer ihm war groß, von dunkler Gesichtsfarbe, und hatte einen langen Mantel umgehängt. Er schien fremd zu sein, und den bestaubten Kleidern nach zu schließen, von weit herzukommen. Er sah den eintretenden Bumble von der Seite an, erwiderte jedoch dessen Begrüßung nur mit einem Kopfnicken. Bumble besaß Würde genug für zwei, und so trank er seinen Schnaps schweigend. Dabei las er mit wichtiger Miene die Zeitung.
Wie es aber oft zu geschehen pflegt, wenn Menschen unter ähnlichen Umständen zusammentreffen, so kam es, daß Bumble sich gewaltig versucht fühlte, mal einen verstohlenen Blick auf den Fremden zu werfen. Er mußte aber seine Augen verlegen abwenden, als er seinem Gelüste nachgab, denn er bemerkte, daß der Fremde im selben Augenblicke nach ihm hinsah. Bumbles Verlegenheit wurde durch den höchst merkwürdigen Ausdruck im Auge des Fremden noch gesteigert. Denn der stechende Blick des fremden Mannes schweifte argwöhnisch und mißtrauisch umher und gaben seinen Mienen etwas Abstoßendes.
Als sie sich in dieser Weise mehrere Male angesehen hatten, brach schließlich der Fremde das Schweigen.
"Haben Sie nach mir gesehen, als Sie durch das Fenster guckten?"
"Nicht, daß ich wüßte, wenn Sie nicht der Herr –"
Hier hielt Bumble inne, denn er war neugierig, den Namen des Fremden zu erfahren und hoffte, dieser würde seine Redelücke ausfüllen.
"Ach, ich merke schon", sagte der Fremde spöttisch, "Sie haben nicht nach mir gesehen, sonst würden Sie meinen Namen wissen. Ich möchte Ihnen auch nicht raten, danach zu fragen."
"Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten", bemerkte Bumble würdevoll.
"Und haben es auch nicht getan", entgegnete der Fremde.
Es folgte nun wieder ein Schweigen, das der Fremde nach einer Weile abermals unterbrach.
"Ich habe Sie früher schon mal gesehen, glaube ich", fing er an. "Sie waren damals jedoch anders gekleidet. Ich begegnete Ihnen zwar nur auf der Straße, aber ich meine doch, Sie wiederzuerkennen. Sie waren früher hier der Gemeindediener, nicht wahr?"
"Stimmt", erwiderte Bumble etwas überrascht.
"Was sind Sie jetzt?"
"Armenhausvater", antwortete Herr Bumble langsam und mit Betonung, er wollte eine plumpe Vertraulichkeit des Fremden von vornherein zurückweisen. "Verwalter des Armenhauses, junger Mann."
"Sie sind zweifellos noch ebenso auf Ihren Vorteil bedacht wie sonst?" fuhr der Fremde fort, indem er Herrn Bumble scharf anblickte, der bei dieser Frage verwundert die Augen erhoben hatte. "Sie brauchen sich nicht zu schämen, mir offen zu antworten, denn Sie sehen, ich kenne Sie genau!'
"Ich bin der Ansicht, daß ein verheirateter Mann ebenso dazu berechtigt ist, wenn ihm die Gelegenheit geboten wird, ein Stück Geld zu verdienen, wie ein lediger. Gemeindebeamten sind nicht so glänzend bezahlt, daß sie einen kleinen Nebenverdienst ausschlagen sollten, wenn er sich ihnen in einer schicklichen Weise bietet."
Der Fremde nickte lächelnd mit dem Kopfe, als wenn er sagen wollte, daß er sich in seinem Manne nicht getäuscht hätte. Dann zog er die Klingel.
"Füllen Sie das Glas noch einmal", befahl er dem Wirte und händigte ihm Herrn Bumbles leeres Glas ein. "Machen Sie es aber stark und recht heiß. So lieben Sie es doch?"
"Nicht zu stark", versetzte Herr Bumble und hüstelte verlegen.
"Sie wissen, was das sagen soll, Herr Wirt", sagte der Fremde trocken.
Der Wirt lächelte und verschwand. Nach einer kleinen Weile kam er mit einem dampfenden Glas wieder, von dem der erste Schluck Herrn Bumble das Wasser in die Augen trieb.
"Hören Sie mich mal aufmerksam an", sagte der fremde Mann, nachdem er vorher die Tür und Fenster geschlossen hatte. "Ich kam heute mit der Absicht hierher, Sie zu treffen. Durch einen der Zufälle, die der Teufel manchmal herbeiführt, mußten Sie in dieses Zimmer treten, gerade als ich mich in Gedanken mit Ihnen beschäftigte. Ich möchte eine Auskunft von Ihnen haben und verlange sie, so unbedeutend sie ist, nicht umsonst. Nehmen Sie das als Anzahlung."
Mit diesen Worten schob er behutsam Herrn Bumble ein paar Goldstücke über den Tisch hin, als wünsche er nicht, daß man draußen das Geld klimpern höre. Herr Bumble prüfte die Münzen auf ihre Echtheit und steckte sie vergnügt in seine Tasche, als er sich davon die nötige Überzeugung verschafft hatte.
"Denken Sie mal zurück – warten Sie – an den Winter vor zwölf Jahren!"
"Das ist lange her", meinte Herr Bumble. "Aber schön, ich hab's getan."
"Der Schauplatz – das Armenhaus."
"Gut."
"Zeit – die Nacht"
"Ja."
"Und der Ort – das elende Loch, wo liederliche Frauenzimmer piepsende Kinder in die Welt setzen, die der Gemeinde zur Last fallen, während sie ihre Schande im Grabe verbergen."
"Das wird, denke ich, das Wöchnerinnenzimmer sein", sagte Herr Bumble, der des Fremden aufgeregter Schilderung nicht ganz zu folgen imstande war.
"Ja, dort wurde ein Knabe geboren."
"Sehr viele", bemerkte Herr Bumble.
"Hol der Teufel die Höllenbrut", schrie der Fremde. "Ich spreche von einem – einem schmächtig aussehenden, blaßgesichtigen Bengel, der zu einem Leichenbestatter in die Lehre gegeben wurde (ich wünschte, er hätte da seinen eigenen Sarg gemacht und sein Körper faulte darin) und nachher nach London entlief."
"Ach, Sie meinen Oliver – den Oliver Twist, an den kann ich mich natürlich noch ganz gut erinnern", versetzte Herr Bumble. "Das war ein eigensinniger Racker –-"
"Ich brauche nichts von ihm zu hören, hab' schon genug von ihm vernommen", fiel ihm der Fremde ins Wort. Es handelt sich um die alte Hexe, die seiner Mutter bei der Entbindung beistand. Wo ist sie?"
"Wo sie ist?" sagte Herr Bumble, den der starke Grog witzig zu machen schien. "Das ist schwer zu sagen. jedenfalls Hebammen werden da nicht gebraucht, und so wird sie wohl außer Dienst sein!"
"Wie muß ich das verstehen?"
"Daß sie den letzten Winter starb!"
Der Unbekannte sah ihn bei dieser Mitteilung scharf an. Eine Weile schien es zweifelhaft, ob ihm die Nachricht erfreulich oder unerfreulich sei. Schließlich stand er auf und schickte sich zum Gehen an; er bemerkte dabei, es käme wenig darauf an.
Bumble war schlau genug, um eine Gelegenheit zu wittern, aus dem Geheimnisse seiner besseren Hälfte Geld zu machen. Er erinnerte sich noch genau der Nacht, in der die alte Sally starb. Der Tag war ihm durch seinen Heiratsantrag, den er Frau Corney damals machte, unvergeßlich geworden. Und obgleich ihm seine Frau niemals