Oliver ließ sich das nicht zweimal sagen, und ehe fünf Minuten um waren, befanden sie sich auf dem Wege nach der Cravenstraße. Als sie dort angekommen waren, ließ Rosa Oliver im Wagen unter dem Vorwande, daß sie den alten Herrn erst auf seinen Besuch vorbereiten wolle.
Sie schickte durch den Diener Herrn Brownlow ihre Karte mit der Bitte, ihn in einer wichtigen Angelegenheit sprechen zu dürfen. Der Bediente kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß sie erwartet würde und führte Fräulein Maylie in ein Zimmer des Oberstocks, wo ihr ein ältlicher Herr mit gutmütigen Gesichtszügen im grünen Anzug zuerst ins Auge fiel. Neben ihm saß ein anderer alter Herr in Nankingbeinkleidern, der nicht besonders freundlich aussah und die Hände über dem Knauf eines dicken Stockes verschlungen hielt, worauf er sein Kinn gelegt hatte.
"Ach", sagte der Herr im grünen Anzug und sprang schnell auf, "ich bitte um Verzeihung, gnädiges Fräulein, – ich glaubte, es wäre irgendeine zudringliche Person, die – bitte entschuldigen Sie mich. Aber nehmen Sie doch Platz!"
"Sie sind Herr Brownlow, nicht wahr?" fragte Rosa und wandte ihren Blick von dem anderen Herrn ab und dem Sprecher zu.
"Der bin ich", antwortete der Herr. "Und hier mein Freund, Herr Grimwig. – Grimwig, wollen Sie uns auf ein paar Minuten allein lassen?"
"Ich glaube nicht", fiel Rosa ein, "daß es nötig ist, den Herrn zu bemühen. Wenn ich recht berichtet bin, so ist ihm die Angelegenheit nicht unbekannt, die mich zu Ihnen führt."
Herr Brownlow stimmte durch ein Kopfnicken zu, und Herr Grimwig, der eine sehr steife Verneigung gemacht und sich erhoben hatte, machte eine zweite ebenso steife Verbeugung und nahm wieder Platz.
"Ich glaube, daß ich Sie mit meinen Mitteilungen sehr überraschen werde", sagte Rosa in einiger Verlegenheit. "Sie haben einmal einem mir sehr teuern, jungen Freunde viel Güte und Wohlwollen erwiesen, und ich bin deshalb davon überzeugt, daß Sie es freuen wird, wieder von ihm zu hören."
"So?" sagte Herr Brownlow.
"Sie kennen ihn als Oliver Twist", versetzte Rosa.
Diese Worte waren kaum ihrem Munde entflohen, als Grimwig, der so getan hatte, als lese er in einem auf dem Tische liegenden großen Buch, dasselbe mit großem Geräusch zuschlug, sich im Stuhl zurücklehnte und Rosa ganz erstaunt und mit großen, starren Augen ansah. Dann schnellte er sich mit einer krampfhaften Anstrengung in seine vorherige Stellung wieder zurück, als ob er sich schäme, soviel Überraschung gezeigt zu haben.
Er guckte gerade vor sich hin und ließ ein langes und tiefes Pfeifen vernehmen, das jedoch nicht in der Luft, sondern in den innersten Winkeln seines Magens zu ersterben schien.
Herr Brownlow war nicht weniger erstaunt, doch gab sich seine Überraschung nicht in der gleichen seltsamen Art kund. Er rückte mit seinem Stuhle Fräulein Maylie näher und sprach:
"Tun Sie mir den Gefallen, gnädiges Fräulein, die Güte und das Wohlwollen, von denen Sie sprachen und von denen außer Ihnen niemand etwas weiß, mal ganz aus dem Spiele zu lassen. Wenn es Ihnen aber möglich ist, etwas anzuführen, das geeignet ist, die ungünstige Meinung, die ich über den Jungen mir bilden mußte, zu ändern, so bitte ich Sie inständig darum."
"Ein schlechter Junge – ich will meinen Kopf aufessen, wenn er nicht ein schlechter Junge ist", brummte Herr Grimwig wie ein Bauchredner, denn er verzog dabei keine Muskel seines Gesichts.
"Der Knabe besitzt ein edles und warmes Herz", sagte Rosa errötend, "und Gott, dem es gefallen hat, ihm Prüfungen, die über seine Jahre hinausgingen, aufzuerlegen, hat in seine Brust Gefühle gepflanzt, die vielen Ehre machen würden, die sechs mal so alt sind als er."
"Ich bin erst einundsechzig", meinte Herr Grimwig mit demselben unbeweglichen Gesicht, "und da es mit dem Teufel zugehen müßte, wenn dieser Oliver nicht mindestens zwölf Jahre alt ist, so finde ich nichts Zutreffendes in dieser Bemerkung."
"Hören Sie nicht darauf, was mein Freund sagt, Fräulein Maylie, er meint es nicht so schlimm, wie es sich anhört", sprach Herr Brownlow.
"Doch meint er es so", brummte Herr Grimwig.
"Nein, er meint es nicht so", entgegnete Herr Brownlow, ärgerlich werdend.
"Er will seinen Kopf aufessen, wenn er es nicht so meint", versicherte Herr Grimwig.
"Er verdiente, daß man ihm denselben abschlüge, wenn er es täte", sagte Herr Brownlow.
"Und er möchte den Mann sehen, der es versuchen wollte", versetzte Herr Grimwig und stieß seinen Stock heftig auf den Boden.
Nachdem es soweit gekommen war, nahm jeder von den beiden alten Herren eine Prise, worauf sie sich, wie gewöhnlich, zum Zeichen der Versöhnung die Hände schüttelten.
"Nun, gnädiges Fräulein", sagte Herr Brownlow, "kehren wir wieder zu der Angelegenheit zurück, an der Ihre Menschenfreundlichkeit so regen Anteil nimmt. Darf ich fragen, welche Nachrichten Sie von dem armen Kinde haben? Erlauben Sie mir vorauszuschicken, daß ich alle mir zu Gebote stehenden Mittel erschöpfte, ihn ausfindig zu machen. Auch meine erste Ansicht, von Oliver betrogen und auf Anraten seiner früheren Diebesgenossen bestohlen worden zu sein, hat seit meiner Auslandreise einen beträchtlichen Stoß erlitten!"
Rosa, die inzwischen Zeit gehabt hatte, ihre Gedanken zu sammeln, berichtete nun in kurzen Worten, was sich mit Oliver zugetragen hatte, seit er Herrn Brownlows Haus verließ. Nur für die Mitteilungen Nancys behielt sie sich eine Unterredung unter vier Augen vor. Sie schloß mit der Versicherung, sein einziger Kummer seit mehreren Monaten sei nur immer gewesen, daß er seinen ehemaligen Freund und Wohltäter nirgends habe finden können.
"Gottlob!" rief der alte Herr. "Diese Nachricht macht mich über die Maßen glücklich. Sie haben mir aber noch nicht gesagt, wo er sich gegenwärtig befindet. Verzeihen Sie, wenn ich es Ihnen zum Vorwurf mache, ihn nicht gleich mitgebracht zu haben."
"Er wartet im Wagen vor der Haustür", sagte Rosa.
"Vor meiner Haustür?" rief der alte Herr und rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und an den Wagen.
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hob Herr Grimwig seinen Kopf hoch und ließ mit Hilfe seines Stockes und des Tisches seinen Stuhl auf einem Hinterbein drei Kreise beschreiben, ohne dabei seinen Sitz zu verlassen. Nachdem er das Kunststück ohne Unfall fertiggebracht hatte, stand er auf und hinkte wohl ein dutzendmal, so schnell er konnte, im Zimmer auf und ab, machte dann plötzlich vor Rosa halt und gab ihr ohne weitere Umstände einen Kuß.
"Pst!" flüsterte er, als die junge Dame ob dieses uns gewöhnlichen Beginnens bestürzt aufstand. "Haben Sie keine Angst! Ich bin alt genug, um Ihr Großvater sein zu können. Sie sind ein prächtiges Mädel – Sie gefallen mir. – Doch da kommen sie schon!"
Durch eine geschickte Wendung brachte er sich wieder in seine frühere Stellung auf dem Stuhle, und gleich darauf trat Herr Brownlow mit Oliver ins Zimmer, der von Herrn Grimwig sehr gnädig empfangen wurde. Wäre die Freude, die Rosa in diesem Augenblick empfand, die einzige Entschädigung für alle Ängste und Sorgen gewesen, die sie Olivers wegen schon gehabt hatte, sie würde sich reich belohnt gefühlt haben.
"Es ist noch jemand da, den wir nicht vergessen dürfen", sprach Herr Brownlow, den Klingelzug ergreifend. "Ich lasse Frau Bedwin bitten", rief er dem eintretenden Diener zu.
Die betagte Hausdame kam sogleich und, einen Knicks machend, harrte sie der Befehle.
"Mein Gott, Sie werden alle Tage blinder", sagte Herr Brownlow ärgerlich.
"Das stimmt", erwiderte die gute Alte. "Ich habe aber nie gehört, daß die Augen mit dem Alter besser werden."
"Das hätte ich Ihnen auch sagen können", entgegnete Herr Brownlow, "aber setzen Sie Ihre Brille auf und sehen Sie zu, ob Sie nicht selbst herauskriegen, weshalb ich Sie rufen ließ!"
Die alte Frau fing an, in ihrer Tasche nach der Brille zu suchen, aber Oliver vermochte diese neue Geduldsprobe nicht zu bestehen, sondern eilte,