Historische Migrationsforschung und die Herausforderungen für die Zeitgeschichte
Aufbauend auf der Tatsache, dass Hör- und Sichtbarkeit noch lange nicht für alle Gesellschaftsschichten gleichermaßen gelten und die homogene Vorstellung von Volk, Territorium und Geschichte seit dem 19. Jahrhundert die Geschichtsschreibung über das Andere lange Zeit verdrängt hatte,31 nahm sich das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck mit Dirk Rupnow und Eva Pfanzelter dem vernachlässigtem Thema Migration an. Das Institut für Zeitgeschichte in Innsbruck öffnete sich somit einem neunen Forschungsschwerpunkt, mit Blick auf die transnationale und globale Geschichte, ohne das Regionale aus den Augen zu verlieren. Wie in Innsbruck üblich, wurde auch die Geschichte des benachbarten Südtirol in das neue Arbeitsfeld aufgenommen. So entstand die vorliegende Arbeit im Rahmen des vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck (in Kooperation mit der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen in Brixen) geleiteten Projektes „(Arbeits-)migration in Südtirol seit dem Zweiten Autonomiestatut“32, das sich die Erforschung der Migrationsgeschichte in Südtirol zur Aufgabe gemacht hat und 2017 erfolgreich abgeschlossen werden konnte.
Die Erschließung von neuen Quellen – im Besonderen Archivmaterial – ist eine der Hauptaufgaben von Zeithistoriker*innen. So haben auch die seit 2013 durchgeführten Migrationsprojekte33 an der Zeitgeschichte in Innsbruck zum Beispiel gezeigt, dass die Geschichte der Migration und Migrant*innen nur unzureichend in den Archiven repräsentiert ist. Zwar kann die Realität der Migrationsgesellschaft nicht mehr geleugnet werden, doch fehlt es häufig an grundlegenden Materialien, da kaum systematisch gesammelt oder vorhandenes Material aus Platzgründen vernichtet wurde.34 Nicht zuletzt bilden Landes- und Staatsarchive in ihren Sammlungen lediglich die hegemoniale Struktur der Gesellschaft ab, während die Geschichten von Migrant*innen ungesehen bleiben.35
Dasselbe trifft auch auf Südtirol zu. Primärmaterialien, mit deren Hilfe sich die Geschichte der modernen Zuwanderung nach Südtirol rekonstruieren ließe, beschränken sich auf Statistiken des Landesinstituts für Statistik, politische Akten des Südtiroler Landtages, Zeitungsberichte oder müssen anhand von Interviews bzw. Umfragen selbst erstellt werden.
Migrationsforschung in Südtirol
Die Erfassung Südtirols als Einwanderungsland hat sich gerade deshalb in der Südtiroler Geschichtsschreibung noch kaum etabliert und historische Studien zur Südtiroler Einwanderungsgeschichte beschränkten sich bis dato auf die Auswertung statistischer Materialien, wie etwa Rainer Girardis geschichtlicher Abriss zur Migration in Südtirol.36 Dieser ist Teil einer umfassenden Studie37 der European Academy of Bozen/Bolzano (EURAC)38, die 2011 in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Migrant*innen in Tirol (ZeMIT)39 herausgegeben wurde und zum ersten Mal das vernachlässigte Thema der Migration in Südtirol und Tirol umfassend aufgegriffen hatte. Dabei fasst das Sammelwerk eine Reihe von Aufsätzen zusammen, die sozial-, politik- sowie rechtswissenschaftliche Zugänge zur Migration in Tirol und Südtirol bieten. Die historische Dimension bleibt aber auch hier ein Randthema. Gleiches gilt für das im Jahr 2013 herausgegebene Buch „Migrationspolitik und Territoriale Autonomie. Neue Minderheiten, Identität und Staatsbürgerschaft in Südtirol und Katalonien“40, herausgegeben von Roberta Medda-Windischer und Andrea Carlà, sowie die Studie „Standbild und Integrationsaussichten der ausländischen Bevölkerung Südtirols. Gesellschaftsleben, Sprache, Religion und Wertehaltung“41, alles Forschungen der EURAC. Diese Publikationen stellen die Migrationspolitik, rechtliche Grundlagen, das Verhältnis zu den autochthonen Minderheiten in Südtirol, sozialwissenschaftliche Studien sowie grenzübergreifende Vergleiche in den Vordergrund, der historische Blick auf das Thema Migration und Südtirol wird jedoch trotz der erstaunlichen Vielfalt an Studien und Untersuchungen weitgehend unberücksichtigt gelassen.
Eine Langzeitstudie (1992–2012) und darüber hinaus grenzübergreifende Vergleiche bietet hingegen die 2016 an der University of Leicester erschienene Dissertation von Verena Wisthaler42, ebenfalls Mitarbeiterin des Instituts für Minderheitenrechte der EURAC. In ihrer Arbeit untersucht Wisthaler die Identitätskonstruktion regionaler und nationalistischer Parteien in Korsika, Südtirol, Schottland, des Baskenlandes und Wales und fragt nach der Auswirkung von Zuwanderung auf die Bildung von kollektiven Identitäten in Minderheitengebieten. Als Basis dienten der Autorin Parteiprogramme, Parlamentsdebatten, thematische Dokumente zur Einwanderung, Integrationspolitiken sowie Gesetze. Der lange Untersuchungszeitraum erlaubte es Wisthaler, auf Veränderungen des politischen Diskurses im Laufe der Zeit einzugehen und somit historische Entwicklungen aufzuzeigen.
Auch mit Identitätsbildungen, internationalen Vergleichen sowie der Frage nach Abgrenzung und Inklusion von Migrant*innen in Minderheitengebieten (Südtirol und Katalonien; Südtirol und Québec) beschäftigen sich Christina Isabel Zuber43 sowie Lorenzo Piccoli.44 Die Befunde internationaler Vergleiche können wie folgt zusammengefasst werden: Während in Südtirol und Korsika Migration als ein überwiegend negatives Phänomen wahrgenommen wird, überwiegen im Baskenland, in Wales und Schottland positive Diskurse. Zuwanderung wird dort – berücksichtigt werden müssen allerdings die Publikationsdaten der Untersuchungen, die vor der letzten Massenmigration 2015 liegen – als Chance und Bereicherung erkannt, während in Südtirol und Korsika Migrant*innen problematisiert sowie als Belastung und Gefahr für die öffentliche Sicherheit, das Sozialsystem und die nationale Identität wahrgenommen werden.45 Der Vergleich mit Katalonien hat darüber hinaus gezeigt, dass Migrant*innen dort als eine Chance für Unabhängigkeitsprojekte wahrgenommen werden, während dies in Südtirol nicht der Fall ist.46 In Québec und Südtirol überwiegt die Sorge um die nationale Identität, womit die Anpassung von Migrant*innen an die eigene Minderheitengruppe – besonders durch das Erlernen der Sprache – als überlebenswichtig erachtet wird.47
Keine dieser Studien vergleicht jedoch die Wahrnehmung von Migration der verschiedenen Sprachgruppen innerhalb Südtirols. Gerade dieser Vergleich ist jedoch von Bedeutung, da er – obwohl nicht international, schließlich aber interlingual und verschiedene ethnische Gruppen betreffend – Denkmuster einer sich als gespalten präsentierenden Südtiroler Bevölkerung offenlegen kann.
Mit Einwanderung in Südtirol allgemein beschäftigen sich die Werke „Einwanderungssituation in Südtirol. Analyse im Rahmen des Projektes ‚Sprach- und Kulturvermittlung an Migrant/innen‘“48 von Elisabeth Ramoser aus dem Jahr 2002 und das von der Caritas Diözese Bozen-Brixen herausgegebene Band „Südtirol wird bunter. Hintergründe und Informationen zu Einwanderung