Eine weitere Charakteristik für das Südtiroler Mediensystem ist die mangelnde Meinungspluralität. Sowohl die Alto Adige als auch die Dolomiten haben innerhalb ihrer Sprachgruppe eine Reichweite von über 80 Prozent. Dies bedeutet, dass – laut einer ASTAT-Studie aus dem Jahr 2000 – 88 Prozent der deutschen-ladinischen Bevölkerung täglich die Dolomiten liest und 82 Prozent der italienischsprachigen Bevölkerung mindestens einmal pro Woche zur Alto Adige greift.204 Obwohl Südtirol eine wachsende Anzahl an regionalen und überregionalen Medien zur Verfügung stehen, fehlen nach wie vor konkurrenzfähige Alternativen. Unabhängige und kritische (Print-)Medien müssten in Südtirol mehr Einfluss und finanzielle Mittel erhalten, um am Leben erhalten zu werden.205 Geschieht dies nicht, werden Informationen weiterhin einseitig verbreitet. Dies wirkt sich im Besonderen auf die Wahrnehmung von Migration aus. Zugewanderte sind in Südtirol außerhalb des medialen Raums kaum öffentlich sichtbar, weshalb es dem Großteil der Bevölkerung nicht möglich ist, sich ein eigenes oder ausgewogenes Bild über viele Themen zu machen. 2016 kam es zudem zu einem großen Rückschritt für die Meinungspluralität in Südtirol, als die Alto Adige in den Medienkonzern der Athesia-GmbH einverleibt wurde.
Neben der ethnischen Berichterstattung und der mangelnden Meinungspluralität ist das Südtiroler Mediensystem auch von ethnischer Autoreferenzialität geprägt. Dies bedeutet, dass Ereignisse und (politische) Akteur*innen der eigenen Sprachgruppe stärker berücksichtigt werden. So dominieren in der deutschsprachigen Zeitung deutschsprachigen Personen und in der italienischsprachigen die italienischen. Die ethnische Autoreferenzialität führt ebenfalls dazu, dass sich die Alto Adige stärker auf Ereignisse in den Ballungszentren konzentriert, dort, wo die italienischsprachige Bevölkerung eine Mehrheit bildet. Dies wirkt sich auch auf die Migrationsberichterstattung aus. Denn ebenfalls Migrant*innen suchen ihren neuen Lebensmittelpunkt bevorzugt in den Ballungszentren Südtirols. So lebt zum Beispiel ein Drittel aller Zugewanderten in der Landeshauptstadt Südtirols.206 Die Alto Adige bildet somit eine unterschiedliche (Medien-)Realität ab als die Dolomiten, die ihren Fokus stärker auf den ländlichen Raum legt,207 wo sich lange Zeit nur vereinzelt Migrant*innen niedergelassen haben. Erst in den letzten Jahren kam es auch hier zu einem Anstieg.208
2. Das Korpus – 20.000 Artikel und Leserbriefe
2.1 Das Korpus
Das Korpus Migration und Südtirol umfasst insgesamt 20.788 ausgewählte und digitalisierte Zeitungsartikel (Berichte, Meldungen, Interviews, Kommentare, Leserbriefe etc.) zum Thema Migration und Südtirol. Grundlage für das Medienkorpus bilden die zwei auflagenstärksten Tageszeitungen Südtirols, die italienischsprachige Alto Adige und die deutschsprachige Dolomiten, von 1990 bis 2014/15. Beide Tageszeitungen erscheinen täglich und umfassen durchschnittlich 7.000 (Dolomiten) und 14.000 (Alto Adige) Seiten pro Monat. Für die Erstellung eines für die Beantwortung der Forschungsfragen angemessenen Korpus und zur Eingrenzung des schieren Umfangs an Nachrichtenmeldungen wurde lediglich die regionale Berichterstattung beider Tageszeitungen berücksichtigt und nach Stichworten durchsucht.
Das Korpus liegt in digitalisierter Form vor und setzt sich aus eingescannten PDF-Dateien oder bereits in Textdateien umgewandelte Ausgaben der Tageszeitungen zusammen. Längst digitalisierte Bestände (PDF-Dateien mit Texterkennung) der Alto Adige stehen in der Stadtbibliothek Bozen in Form von CDs zur Verfügung, dieser Bestand deckt die Jahre 1990 bis 1999 ab. Die Jahrgänge 2000 bis 2003 wurden von der Verfasserin in den Räumlichkeiten der Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann in Bozen digitalisiert. Und die Jahrgänge 2004 bis 2015 konnten dem Online-Archiv209 der Alto Adige entnommen werden. Dieses Online-Archiv stellt Textdateien sowie PDF-Ausgaben der Tageszeitung kostenpflichtig zur Verfügung.
Textdateien der Dolomiten können nach persönlicher Absprache vom Dolomiten-Archiv der Athesia AG kostenpflichtig erworben werden. Das Dolomiten-Archiv der Athesia archiviert die Dolomiten seit 1991. Der Jahrgang 1990 wurde von der Verfasserin selbst digitalisiert. Die eingescannten PDF-Seiten wurden mittels Texterkennung in maschinenlesbare PDFs – nicht in XML-Dateien – umgewandelt und somit für die weitere computerbasierte Auswertung aufbereitet.
Obwohl die Qualität der Scans sehr gut ist, treten Fehler bei der Texterkennung auf. Unebenheiten in der Zeitung und unterschiedliche Schriftbilder verursachen durchschnittlich fünf bis zehn Fehler pro Seite. Für Positiv-Suchen – wie es in dieser Arbeit der Fall ist – stellt dies kein größeres Problem dar. Bereits 80 Prozent Buchstabengenauigkeit reichen aus – so auch Konstantin Baierer und Philipp Zumstein –, um aussagekräftige Ergebnisse zu erlangen.210 Bei Zeitungen aus dem 21. Jahrhundert und qualitativ hochwertigen Scans liegt die Buchstabengenauigkeit zudem weit über 80 Prozent. Darüber hinaus muss bedacht werden, dass die computergestützte Volltextsuche weitaus mehr Resultate liefert als das händische Durchblättern der Zeitungen. Obwohl bei einer Buchstabengenauigkeit von 90 bis 99 Prozent selbstverständlich einzelne Inhalte unentdeckt bleiben, steht dies in keiner Relation zur Ungenauigkeit der manuellen Suche.211 Der Verzicht auf eine computergestützte und komplexe Volltextsuche hätte die Zahl der gefundenen Artikel deutlich eingeschränkt. Allzu häufig verbergen sich wichtige Aussagen gerade dort, wo Überschriften nicht explizit auf das Thema Migration hinweisen. Auch wäre es im vorgegebenen Zeitrahmen nicht möglich gewesen, ein derart großes Korpus auf jede einzelne Überschrift, geschweige denn jedes einzelne Wort zu durchsuchen. Aus diesem Grund ist selbst eine leicht fehlerhafte computergestützte Volltextsuche effektiver als das eigenständige Durchsuchen von Zeitungen und hat somit seine Berechtigung.
Grafik 1: Frequenzanalyse aller Zeitungsartikel des Korpus Migration und Südtirol
Die Anzahl der in den beiden Tageszeitungen gefundenen Artikel ist beträchtlich. Insgesamt 10.065 wurden im Zeitraum von 1990 bis 2014/15 der Dolomiten entnommen und 10.723 der Alto Adige. Für die deutschsprachige Dolomiten wurden folgende Suchbegriffe herangezogen:
Nicht-EU-Bürger*, Nicht-EG-Bürger*, Zuwander*, Zugewanderte*,