Da Argumentationen meist implizit bleiben, muss das Gesagte zunächst interpretativ erschlossen werden. Dies geschieht durch die Ableitung von Schlussregeln bzw. Topoi aus impliziten Argumenten. Aufgrund der Vielzahl an Variationen können Argumente nicht singulär verglichen werden, durchaus aber Schlussregeln, die Argumente mit gleicher Schlussfolgerung zusammenfassen.235 Diese Schlussregeln können in der Analyse als knappe Stichworte, Ausdrücke, Kurzsätze oder Regeln formuliert werden. Die Dominanz, das Vorkommen und die Veränderung dieser Muster ermöglichen anschließend einen Vergleich von dominanten Denkmustern über die Zeit und darüber hinaus den Vergleich von Diskursen in verschiedenen Medien. So z. B. der Migrationsdiskurs der Tageszeitungen Dolomiten und Alto Adige.236 Beide Südtiroler Tageszeitungen berichten in unterschiedlichen Sprachen und repräsentieren ihre jeweilige Sprachgruppe und Kultur. Es kann hierbei nicht von einem internationalen Vergleich gesprochen werden, trotzdem handelt es sich um zwei unterschiedliche Kulturen, die zwei unterschiedliche Sprachen sprechen und eine Art Parallelgemeinschaft führen. Dieser interlinguale und doch intranationale Aspekt ist für die Auswertung nicht unbedeutend, da auch die Denkmuster/das kulturelle Gedächtnis237 keine Gemeinsamen sind. Dadurch ergeben sich prototypische Argumente, die nur für eine Sprachgruppe charakteristisch sind.
Für die diskursgeschichtliche vergleichende Argumentationsanalyse in Südtirol gilt also zu klären, ob:
• die beiden Sprachgruppen die gleichen Argumente/Argumentationsmuster verwenden oder nicht,
• es Gemeinsamkeiten/Parallelen in den Diskursen der jeweiligen Sprachgruppen gibt und ob diese zur selben Zeit oder phasenverschoben auftreten,
• es eine Veränderung/einen Wandel im Gebrauch bestimmter Argumentationsmuster gibt und dieser synchron verläuft,
• bestimmte Argumentationsmuster signifikant für die jeweilige Sprachgruppe sind.238
Eine diskurshistorische Analyse – und hier wird auf die Wiener Schule der Diskursanalyse verwiesen – darf neben dem argumentativen Aspekt nicht die Ebene des „nicht-sprachlichen gesellschaftlichen Kontextes“239 vergessen. Die Bedeutung der einzelnen Topoi entsteht nicht nur durch den Gebrauch im Diskurs, sondern auch in Verbindung mit dem relevanten Kontext. Um es einfach auszudrücken: Sprachliche Äußerungen finden an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit und aus einem bestimmten Grund statt, weshalb gesellschaftliche, historische und kulturelle Kontexte zu beachten sind. Bernd Matouschek unterschiedet hierbei drei Kontexte auf der Makroebene:
• Der diskursive Kontext: die inhaltliche/thematische Verknüpfung der einzelnen Texte (Intertextualität)
• Der soziale Kontext: Um den Bezug zum nicht-sprachlichen Kontext herzustellen, müssen auch verfügbare Sozialdaten miteinbezogen werden (Daten zur Einwanderung, Asylanträge, Arbeitsmarktlage, Lebensverhältnisse der Migrant*innen, Kriminalstatistiken usw.)
• Der historische Kontext: Die untersuchten Texte sind in einer vergangenen Zeit entstanden, weshalb es für die Analyse auch wichtig ist, den relevanten geschichtlichen Hintergrund zu beschreiben.240
Um formale und inhaltliche Merkmale der Zeitungsartikel festzuhalten, wurde zeitgleich mit der Argumentationsanalyse eine Inhaltsanalyse durchgeführt. Denn durch inhaltsanalytische Verfahren können formale Aspekte wie Darstellungsformen, Medientypen oder Zeiträume erschlossen und anschließend graphisch dargestellt werden. Die Inhaltsanalyse ist besonders effizient in der Verarbeitung großer Datenbestände und hilft bei der Strukturierung, Abrufung und Einordnung einzelner Texte. Unterschieden werden muss bei der Methode der Inhaltsanalyse zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren.241 Für diese Arbeit wurden quantitative Verfahren angewendet, mit dessen Hilfe folgende Kriterien erfasst wurden:
• Datum (Jahr und Monat)
• Art des Mediums (Dolomiten oder Alto Adige)
• Artikulationsmöglichkeiten von Migrant*innen (Kommen zu Wort bzw. kommen nicht zu Wort)
• Journalistische Form (Nachrichten/Meldungen, Berichte, Reportagen, Dokumentationen, Leitartikel/Kommentare/Glosse, Interviews, Pressemitteilungen, Leserbriefe)
Die Kombination von Diskursanalyse und Inhaltsanalyse hat sich als gewinnbringend gezeigt. Durch die Inhaltsanalyse wurden die einzelnen Artikel mit den notwendigen Metadaten versehen, die für die Strukturierung, Einordnung und Auswertung der Artikel notwendig sind. Außerdem konnten inhaltliche Aspekte wie die Artikulationsmöglichkeiten von Migrant*innen erhoben werden.
3.2 Analysestrategie- und vorgehen: Blended Reading
Blended Reading bezeichnet eine Analysestrategie, die menschliche und computergestützte Kompetenzen kombiniert. Konkret bedeutet das, dass Analyseverfahren aus dem Repertoire des Text Mining mit der Notwendigkeit, Einzeltexte selbst zu lesen, verknüpft werden. Als Text Mining wird hierbei ein weitgehend automatisierter Prozess der Wissensentdeckung auf der Basis computergestützter Programme verstanden. Dieser Prozess steht dem genauen Lesen einzelner Texte und dessen Interpretation gegenüber. Die beiden Politologen, Alexander Stulpe und Matthias Lemke, unterscheiden drei wesentliche Analyseebenen des Blended Reading: Verfahren erster Ordnung sind datenstrukturierend, dienen also der basalen Strukturierung des Textdatenbestandes im Zeitverlauf (z. B. Frequenzanalysen). Verfahren zweiter Ordnung sind quantitativ und eröffnen erste Wege zur inhaltlichen Erschließung des Textmaterials (z. B. Topic Modelle oder Kookkurrenzanalysen). Verfahren dritter Ordnung sind qualitativ und interpretengestützt (manuelle Annotation relevanter Textstellen). Diese Verfahren stehen nicht starr nebeneinander, sondern umschließen sich vielmehr, womit maschinelle und manuelle Analyse in einem ständigen Austausch stehen.242
Analyseprogramm
Um der schieren Anzahl von Zeitungsartikeln gerecht zu werden, ist der Einsatz computerbasierter Programme sinnvoll und notwendig. Für die vorliegende Forschungsarbeit hat sich der Rückgriff auf das qualitative Analyseprogramm ATLAS. ti als vorteilhaft erwiesen, da es eine Kombination von automatisierter und manueller Analyse zulässt, Netzwerkanalysen ermöglicht und einen unkomplizierten Rückgriff auf die Volltexte gestattet. ATLAS.ti erlaubt es, neben der manuellen Kodierung von Texten, komplexe automatisierte Stichwortsuchen durchzuführen.
Für die manuelle Kodierung mit ATLAS.ti wird der Text zunächst in Kategorien