Interessant ist die sprachliche Entwicklung, die sich im Reichsgut vollzog. Trotz der deutschen Oberherrschaft konnte die deutsche Sprache kaum Fuß fassen. Die vorherrschende Sprache blieb ein frankoprovenzalisches Idiom, der Vorläufer des modernen Arpitanischen, das man auch heute noch auf den Straßen von Lyon und in Teilen der Westschweiz und Savoyens hören kann. Menschen mit historischem Gespür vernehmen im Arpitanischen das Echo eines vergangenen Burgunds.66
Das Verfahren der Ernennung von Grafen zu Herzögen war anscheinend völlig willkürlich. Alles hing davon ab, wie viel Macht, Prestige und Glück ein bestimmter Vasall zu einem bestimmten Zeitpunkt besaß. Doch einen besonderen Platz in der Geschichte nimmt ein neues Herzogtum ein, das eng mit dem schwäbischen Adelsgeschlecht der Zähringer verbunden war. Die ehemalige Burg der Zähringer auf einem Berg in der Nähe von Freiburg im Breisgau ist heute eine Ruine, doch im 11. und 12. Jahrhundert war sie der Sitz eines ehrgeizigen Fürstengeschlechts, das bereits zwei Herzogtümer gewonnen und wieder verloren hatte und das nun zum dritten Mal nach einem Herzogtum strebte. Die Zähringer hatten sich als erfolgreiche Verwalter der Eigengüter ihrer Familie erwiesen; sie hatten im Schwarzwald ihre Rechte gegenüber der Kirche durchgesetzt, und nach der Gründung der Stadt Freiburg errichteten sie dort ein organisiertes System der Kommunalverwaltung. Sie führten im Kleinen vor, was der Kaiser in großem Rahmen durchzusetzen hoffte. Sehr viele burgundische Adelige hatten mittlerweile ihren Lehnseid vergessen. Im Jahr 1127 bestellte der Kaiser Konrad von Zähringen zum Rektor (königlicher Stellvertreter) von Burgund und übertrug ihm die Güter eines neu geschaffenen Herzogtums Burgundia Minor (»Klein-Burgund«). Die Zähringer sollten im Königreich Burgund die Disziplin wiederherstellen.67
Der Herzogtum Klein-Burgund umfasste ein großes Gebiet östlich des Jura, das weitgehend identisch ist mit den Grenzen der heutigen frankophonen Schweiz. Es ist die Nr. VI auf der Liste von Bryce. Zum Territorium des Herzogtums der Zähringer gehörte auch ein kleineres Gebiet, die Landgrafschaft Burgund, die auf der Bryce-Liste die Nr. VIII darstellt. Dieses Territorium bestand aus dem Gebiet rechts der mittleren Aare zwischen Thun und Solothurn. Möglicherweise reichte es auch bis Habsburg, der »Habichtsburg«, die über der Aare bei Solothurn steht und als Stammburg der Habsburger gilt, die später zum mächtigsten Herrschergeschlecht in Mitteleuropa aufstiegen. Der Tradition der Habsburger zufolge hieß der Stammvater Guntram.68
Als Rektoren und Herzöge hatten die Zähringer die Lehenshoheit über eine Vielzahl von Edlen, Grafen und Bischöfen inne sowie über ein Archipel von loyalen Städten, die verstreut waren über ein widerspenstiges Land. Sie bauten ein Netz von miteinander verbundenen Städten auf, wozu Freiburg, Burgdorf, Murten (Morat), Rheinfelden und Thun gehörten. Ihr bedeutsamster Repräsentant, Graf Berthold V. von Zähringen (1160–1218), ließ die Burg von Thun erbauen und gründete im Jahr 1191, angeblich nachdem er einen Bären erlegt hatte, die Stadt Bern. Er starb kinderlos, und mit ihm endete die Linie der Zähringer. Das Experiment wurde nicht wiederholt.69
Schon ab Mitte des 12. Jahrhunderts bemühte sich Friedrich Barbarossa darum, die Macht des Kaisertums zu stärken. Er ließ sich 1152 in Aachen zum deutschen König krönen, 1154 in Pavia zum König von Italien, 1155 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und mit einigem zeitlichen Abstand 1173 in Arles schließlich zum König von Burgund. Allen diesen Schritten gingen jahrelange politische Aktivitäten und Feldzüge voraus. Im Laufe dieser Zeit verbündete er sich mit dem Papst und ermöglichte dadurch die Wiederbelebung der »Zwei-Schwerter-Lehre«, wonach Gott den Menschen zwei Schwerter gegeben habe, das geistliche und das weltliche, die vom Papst beziehungsweise vom Kaiser geführt werden sollten. Barbarossas Interesse an Burgund wurde durch seine zweite Ehe entfacht, seine Heirat mit Beatrix von Burgund, der Erbin des burgundischen Pfalzgrafen. Durch diese Heirat unterstellte Barbarossa das Gebiet seiner unmittelbaren Herrschaft und verwickelte sich in die Konflikte im Königreich Burgund, konnte aber keine entscheidenden Erfolge erzielen. Er starb auf dem Zweiten Kreuzzug, ohne jemals das Heilige Land zu Gesicht bekommen zu haben.70
Der langwierige »Investiturstreit«, der Konflikt zwischen geistiger und weltlicher Macht, schwächte die beiden höchsten Autoritäten der mittelalterlichen Welt gleichermaßen. Er begann im 10. Jahrhundert, als die ottonischen Kaiser erstmals die Papstwahl zu beeinflussen versuchten, und setzte sich in mehreren Wendungen bis ins 13. Jahrhundert fort. Dem Konflikt lag im Kern die ungelöste Frage zugrunde, ob der Papst oder der Kaiser die übergeordnete rechtliche Instanz darstellten, und konkret ging es um das Recht auf die Amtseinsetzung (Investitur) von Geistlichen, insbesondere von Bischöfen und Äbten. Der Streit verschärfte die Auseinandersetzungen und Bürgerkriege in Deutschland, bis schließlich 1122 durch das Wormser Konkordat eine Kompromisslösung gefunden wurde. In anderen Ländern jedoch dauerte dieser Streit noch länger an, insbesondere in England unter König John. Seine Bedeutung mag von manchen Historikern übertrieben worden sein, die andere Ursachen für Spannungen unbeachtet ließen,71 doch er führte dazu, dass in allen Teilen des Reiches eine verfahrene Situation entstand, in der weder Papst noch Kaiser den Machtanspruch des anderen anzuerkennen bereit waren, und beschleunigte letztlich die Zersplitterung der Macht:
In der Zeit des Investiturstreits … entstanden neue territoriale Einheiten, und diese Einheiten bildeten die Keimzellen, aus denen sich in Deutschland die Fürstentümer des Späten Mittelalters entwickelten … Es sollte noch viele Generationen dauern, bis die Fürsten die vollständige Kontrolle über ihre Territorien durchsetzen konnten, doch bereits zu Beginn des 12. Jahrhunderts beschritten die großen Adelsfamilien jenen Weg, der am Ende zur territorialen Souveränität führte; und es war der Investiturstreit mit seinen revolutionären gesellschaftlichen Veränderungen im Gefolge, der ihnen die Möglichkeit eröffnete, ihre Macht zu behaupten und auszubauen.72
Das Königreich Burgund war besonders anfällig für diese Schwächung der staatlichen Autorität. Es stellt sich die Frage, warum die Kaiser nach dem Zwischenspiel des Herzogtums der Zähringer so zögerlich waren und nicht eingriffen und den Niedergang aufhielten. Darauf gibt es geografische, politische und strategische Antworten: Zum einen waren militärische Aktionen in Burgund aufgrund des gebirgigen Terrains stets mit großen Unsicherheiten behaftet. Zum anderen genoss das Königreich Deutschland eindeutig den Vorrang. Dem Tod eines Kaisers folgte stets eine Auseinandersetzung, in der die führenden Thronanwärter um die Nachfolge rangen, bis schließlich ein neuer Kaiser gekrönt wurde. Und drittens musste jeder Monarch, wenn er seine Position in Deutschland gesichert hatte, sich entscheiden, ob er sein Augenmerk künftig dem Königreich Italien oder dem Königreich Burgund zuwenden wollte. Fast ausnahmslos entschieden sich die neuen Kaiser für Italien. Rom, der Sitz des Papstes, übte eine magische Faszination aus. Die Unterstützung des Papstes besaß enorme Bedeutung, und jeder künftige deutsche Kaiser träumte davon, in die Fußstapfen Karls des Großen zu treten. Daher blieb das Königreich Burgund üblicherweise unbeachtet. Ein deutscher Kaiser überließ nicht nur Burgund, sondern auch Deutschland sich selbst. Friedrich II. (reg. 1220–1250), im normannischen Sizilien geboren, zog es vor, seinen Hof in seinem Stammland Süditalien einzurichten.73
Unaufhaltsam erlebte das Königreich Burgund nun eine Reihe von Abspaltungen. In regelmäßigen Abständen brach ein Teil des Reiches weg. Die ursprüngliche Ansammlung von Territorien schrumpfte stetig. Als erstes Gebiet schied die Provence aus, dann folgten das Comtat Venaissin, Lyon und die Dauphiné. Die Kaiser hielten noch an einigen Ansprüchen und Rechten fest, doch die Entwicklung war unumkehrbar. Das Königreich zerfiel langsam. Die ersten Schritte zur Abspaltung wurden von den Geistlichen vollzogen, von denen einige den Titel »Fürstbischof« beanspruchten. Sie fühlten sich dazu ermutigt, weil die Kaiser die Unterstützung der Kirche benötigten. Die Bischöfe von Sion (im Valais) und von Genf sagten sich schon sehr früh los, und andere folgten ihnen.
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