Die politische Zersplitterung sollte sich weiter beschleunigen, doch dieser gängige Begriff wird den komplizierten Prozessen, die sich hier vollzogen, nicht gerecht. Denn nachdem die überkommenen staatlichen Einheiten zusammengebrochen waren, entstanden neue Gebilde, häufig unter Missachtung bestehender staatlicher Grenzen. Heiraten, Brautgaben, Eroberungen und Nachlässe führten zu einer ständigen Abfolge von Zusammenschlüssen, Trennungen und Neugründungen. Der typische burgundische Graf war nicht mehr der Herr über ein direktes Lehen, das einem Oberherrn unterstand. Häufiger war er das Oberhaupt einer Reihe von Gütern, Titeln und Ansprüchen, die im Laufe von Generationen durch die vereinten Bemühungen der Ritter, der Frauen, Kinder und Anwälte seiner Familie entstanden waren.
Bei den burgundischen Pfalzgrafen beispielsweise wurde das ursprüngliche Erbe wiederholt von einem politischen Bereich in einen anderen weitergegeben und durch Heirat von einer Familie zu einer anderen: Im Jahr 1156 fiel es an das deutsche Geschlecht Hohenstaufen, 1208 an das bayerische Haus Andechs und 1315 an das französische Königshaus. Jedes Mal fügte der Begünstigte die Titel und Besitztümer seiner Ehefrau seinen eigenen hinzu, wobei er manchmal den früheren Oberherrn anerkannte, manchmal auch nicht. Für adelige Stammbaumforscher trat 1330 ein wichtiges Ereignis ein, als Jeanne III. von Frankreich, die Gemahlin des Herzogs des französischen Burgund, von ihrer Mutter den Anspruch auf die zum Heiligen Römischen Reich gehörende Freigrafschaft Burgund erbte. Das französische Herzogtum und die deutsche Grafschaft standen damit vor einer dauerhaften Vereinigung. Im Zuge der verwirrenden burgundischen Erbfolge (siehe unten) bemühte sich Margarete, die Freigräfin von Burgund (1310–1382), eine Tochter des französischen Königs, diesen Zusammenschluss zu beschleunigen. Im Jahr 1366 begann sie, ohne besonderen rechtlichen Grund, in ihren Urkunden und Dokumenten den Begriff »France-Comté« (sic) zu verwenden und ließ die traditionelle Bezeichnung »Grafschaft Burgund« fallen. (Damit griff sie das Beispiel von Rainald III. auf, der sich als franc comte bezeichnet hatte.) Die mittlerweile etablierte Bezeichnung »Franche-Comté« entstand eindeutig erst nach Margaretes Tod. Das war das Königreich Nr. VII. auf der Liste von Bryce.86
Die Mitte des 14. Jahrhunderts war in Europa eine schwierige, turbulente Zeit. Im Jahr 1348 wütete der Schwarze Tod, und dies war bei Weitem nicht der letzte Ausbruch der Beulenpest. Frankreich stand vor dem Hundertjährigen Krieg mit England, und im Heiligen Römischen Reich herrschte Aufruhr wegen der Goldenen Bulle von 1356, durch die ein neues Grundgesetz für das Reich eingeführt und die Modalitäten der Königswahl neu geregelt wurden. Infolge der Spaltung der Kirche gab es einen Papst in Rom und einen Gegenpapst in Avignon. Die wenigen verbliebenen Teile des Königreichs Burgund waren oft zwischen den Nachbarstaaten umkämpft. Darüber hinaus brachen gleichzeitig im Königreich Frankreich, im Herzogtum Burgund und in der Freigrafschaft Burgund langwierige Erbfolgekrisen aus.
Dabei ist es hilfreich, wenngleich zu Beginn klargestellt wird, dass drei verschiedene Frauen den Namen »Margarete von Burgund« verwendeten und dass drei verschiedene Männer »Philipp von Valois« genannt wurden. Einer von ihnen, der auch unter dem Namen Philipp von Rouvres (1347–1361) bekannt ist, löste die Krise aus, als er 1361 bei einer Wiederkehr der Pest vorzeitig starb, ohne seine Ehe vollzogen zu haben. Hätte er länger gelebt, hätte er mühelos seine eigenen Ansprüche auf das Herzogtum und jene seiner Gemahlin auf die Freigrafschaft durchsetzen können. Stattdessen fielen seine sämtlichen Titel an konkurrierende Anspruchshalter. Dazu kam, dass der französische König Johann der Gute das Erstgeburtsrecht missachtete und, wiederum aus politischen Gründen, das Herzogtum Burgund für seinen vierten Sohn beanspruchte.
Das forsche Vorgehen dieses vierten Sohnes Philipp von Valois (Philipp dem Kühnen), der sich bereits als junger Mann 1356 in der Schlacht von Poitiers gegen den Schwarzen Prinzen von England hervorgetan hatte, liefert den Schlüssel für alle späteren Entwicklungen. Obwohl er in der französischen Erbfolgelinie nur einen mittleren Platz einnahm, gelang es ihm, maßgeblichen Einfluss auf den Regentschaftsrat auszuüben, der nach dem Tod seines Vaters 1364 jahrzehntelang die französische Politik bestimmte.87 Durch seine Heirat mit Margarete Dampierre, der Witwe von Philipp von Rouvres und Erbin von Flandern (wo sie unter dem Namen Margarete von Male bekannt war), sicherte er sich zudem eine Vielzahl von Ansprüchen und Titeln, die vorher auf verschiedene Personen verteilt gewesen waren. Dazu gehörte auch der Anspruch auf die Freigrafschaft Burgund, der 1384 nach dem Tod ihres Vaters an Margarete zurückfiel. Dies führte zur Bildung eines neuen vereinten Burgund, das im Kern aus einer Union des Herzogtums und der Grafschaft bestand und sich in den letzten beiden Jahrzehnten des langen Lebens von Philipp dem Kühnen formte. Auf der Liste von Bryce erscheint es nicht als eigenes Reich, sondern als eine Kombination aus den Reichen Nr. X und Nr. VII.
Erwartungsgemäß sorgte die Entstehung des neuen Staatswesens, das nur dank der gleichzeitigen Schwäche von Frankreich wie von Deutschland möglich geworden war, für heftige Konflikte. In Frankreich löste sie einen erbitterten und langwierigen Bürgerkrieg zwischen zwei Adelsgruppierungen aus, den »Bourguignons« und den »Armagnacs«, deren Auseinandersetzungen bald vom Hundertjährigen Krieg überlagert wurden. Die Bourguignons setzten sich für gute Beziehungen sowohl zu den Nachfolgern von Philipp dem Kühnen als auch zu den englischen Verbündeten Burgunds ein. Die Armagnacs, die sich als französische Patrioten verstanden, verurteilten die Aktivitäten des abtrünnigen Herzogtums und die verräterische Allianz mit dem englischen Erbfeind. Von 1418 bis 1436 beteiligten sich burgundische Truppen an der englischen Besetzung von Paris. Die Deutschen, durch ihre eigenen Streitigkeiten hoffnungslos zersplittert, waren außerstande, einzugreifen, bis schließlich in den 1430er-Jahren die Ära der Habsburger begann. Niemand, vielleicht mit Ausnahme der Mitarbeiter der Reichskanzlei, erinnerte sich noch daran, dass das Königreich Burgund offiziell noch nicht erloschen war. Unterdessen hatten die Herzöge und Grafen freie Hand.
Das neue Staatsgebilde, das vom Ende des 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts bestand, wird allgemein, aber ungenau als »Herzogtum Burgund« bezeichnet, manchmal auch als »Valois-Burgund«; es wurde von einem französischen Fürstengeschlecht regiert, das sich kurzzeitig der Vormundschaft von Paris entziehen und ein eigenständiges wohlhabendes und kultiviertes Reich aufbauen konnte.88 Doch die vorherrschende französische Sichtweise ist nicht notwendigerweise die treffendste, man sollte besser die historische Bezeichnung »Staaten von Burgund« verwenden und für seine Herrscher den doppelten Titel »Herzöge und Grafen«. Der Erfolg dieser Unternehmung beruhte darauf, dass das französische Herzogtum und die deutsche Grafschaft in Personalunion von Herrschern geführt wurden, die ein neues Staatswesen schufen, das weder französisch noch deutsch war. Die Familie von Philipp dem Kühnen war nur zur Hälfte französisch und zur anderen Hälfte flämisch, und da Philipps flämische Ehefrau Margarete von Dampierre als Untertanin des deutschen Kaisers geboren war, gehörte sie zumindest teilweise auch zum Reich. Darüber hinaus lag diesem außergewöhnlichen kleinen Reich der Herzöge und Grafen, das sich von der Boulogne bis zum Schwarzwald erstreckte, die romantische Vorstellung zugrunde, dass es eine Wiedergeburt des vor langer Zeit verschwundenen Lotharingien sei.
Nur vier Herrscher regierten die Staaten von Burgund im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts: Philipp der Kühne/Filips de Stoute (reg. 1364–1404), Johann Ohnefurcht/Jean sans Peur/Jan zonder Vrees (reg. 1404–1419), Philipp der Gute/Philippe le Bon/Filips de Goede (reg. 1419–1467) und Karl der Kühne/Carles le Téméraire/Karel de Stoute (reg. 1467–1477). Die niederländischen und flämischen Historiker haben natürlich eigene Bezeichnungen gefunden. Bei der Auflistung jener Herrscher, die zugleich Herzog und Graf waren, werden auch die nichtburgundischen Grafen von Flandern und Artois berücksichtigt. Zu den burgundischen Landen gehörten aber nicht nur die beiden Burgund sowie Flandern und Artois. Karl der Kühne beispielsweise besaß 15