Ende des 9. Jahrhunderts gab es schließlich drei eigenständige burgundische Reiche. Eines davon, das Herzogtum, lag innerhalb des westfränkischen Machtbereichs. Die beiden anderen, die Königreiche Hochburgund und Niederburgund, waren gerade erst unabhängig geworden. Rudolfs Herrschaftsgebiet erstreckte sich zwischen »Iurum et Alpes Penninas … apud Sanctum Mauritium«. Daher wurde dieses Reich manchmal auch als »Transjuranisches Burgund« bezeichnet, um es vom Herzogtum im »Cisjuranischen Burgund« zu unterscheiden, doch diese alten Benennungen sind verwirrend. In Wirklichkeit umfasste Rudolfs Territorium beide Flanken des Jura und erstreckte sich über die heutigen Schweizer Kantone Wallis, Waadt, Neuchâtel und Genf sowie über Savoyen und die nördliche Dauphiné. Das Verwaltungszentrum war St. Maurice (St. Moritz). Dies war das fünfte burgundische Reich gemäß der Liste von Bryce.
»Hochburgund« kann man sich heute nur im Zusammenhang mit den modernen Bezeichnungen »Frankreich«, »Deutschland« und »Schweiz« vorstellen. Es ist stets zu bedenken, dass die modernen europäischen Staaten nicht neu erfunden wurden und dass die Gemeinschaften, die ihnen vorausgingen, nicht weniger künstlich waren als sehr viele Staaten in der europäischen Geschichte. Die »Hochburgunder« übten sprachlichen Zusammenhalt und drangen niemals über die Grenzen ihrer alten Stammesfeinde, die Deutsch sprechenden Alamannen vor. Sie waren geprägt durch die Sturheit von Bergbewohnern, instinktiv misstrauisch gegenüber Außenstehenden und teilten die Erinnerungen und Mythen aus einer gemeinsamen Vergangenheit, die ein halbes Jahrtausend alt war. Hier, so glaubte man, konnte der Geist des alten Burgund besser bewahrt werden als im französisch regierten Herzogtum oder in Gebieten, die stärker äußeren Einflüssen ausgesetzt waren. Ein Schweizer Historiker schrieb in diesem Zusammenhang: »C’est ainsi que nacquit une improbable patrie entre un matreau et une éclume.« (»So wurde hier, gewissermaßen zwischen Hammer und Amboss, ein schier unmögliches Heimatland geboren.«)60 Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Schweiz aus burgundischen Wurzeln erwachsen ist.
Kaum ein Fachhistoriker dürfte wohl der Einschätzung widersprechen, dass das Hochburgund des 10. Jahrhunderts »einen der undurchsichtigsten Abschnitte der mittelalterlichen Geschichte« darstellte.A Rudolf II. (gest. 937), der einzige Sohn des Begründers des Königreiches, setzte sein Geburtsrecht aufs Spiel, als er sich in die Politik in Norditalien einmischte, in der viele gefährliche Fallstricke lauerten. Nachdem er 923 zum König der Lombarden gekrönt worden war, pendelte er eine Zeit lang zwischen St. Maurice und Pavia. Die italienischen Adeligen erhoben sich erwartungsgemäß gegen ihn und wollten Hugo von Arles, den Regenten von Niederburgund, an seine Stelle setzen. Im Jahr 933 fanden Rudolf und Hugo zu einer genialen Lösung. Rudolf anerkannte Hugos Anspruch auf Italien, wofür Hugo Rudolf als Monarchen eines vereinigten Königreiches aus Hoch- und Niederburgund vorschlug. Rudolfs Tochter heiratete Hugos Sohn, und vier Jahre später kam das glückliche Paar in den Besitz seines vereinten Reiches. Dieses zentrale Ereignis ist allerdings mit einigen Unklarheiten verbunden, da die Könige von Hochburgund abwechselnd Rudolf, Rudolphus, Ralf oder Raoul genannt wurden. Seltsam ist ferner, dass die Zählung der Herrscher nach der Schaffung des neuen Reiches bruchlos fortgesetzt wird. Aus dynastischen Gründen wird der erste Rudolf, der über das Reich der beiden Burgund herrschte, im Allgemeinen als Rudolf II. bezeichnet, was darauf hindeutet, dass es sich eher um eine Übernahme des Südens als um die Gründung eines neuen Reiches handelte.61
Für Verwirrung sorgt hauptsächlich die Einschätzung des politischen Kontextes des Vertrags von 933. In sämtlichen Kommentaren aus Burgund wird er als reines Tauschgeschäft zwischen zwei Herrschern dargestellt. Doch die Entwicklungen in Norditalien wurden in Deutschland stets sehr aufmerksam verfolgt, wo die Abmachungen zwischen Rudolf und Hugo das Misstrauen der Ottonen-Dynastie wecken mussten. Als die beiden burgundischen Herrscher ein enges politisches und verwandtschaftliches Bündnis schlossen, konnten ihre kaiserlichen deutschen Nachbarn nicht untätig zusehen:
Auf die Gefahr, die durch diese Allianz ausging, reagierte [Kaiser] Otto umgehend. Als Schutzherr von Rudolfs 15 Jahre altem Sohn Konrad marschierte Otto in Burgund ein ›brachte den König und das Königreich in seinen Besitz‹ und begegnete dadurch der Gefahr einer Vereinigung von Italien und den burgundischen Landen … Burgund wurde zwar erst 1034 formell mit Deutschland zusammengeschlossen, stand aber seit 938 unter deutscher Hegemonie.62
Der deutsche Faktor war das entscheidende Element bei der burgundischen Vereinigung. Die rudolfinische Dynastie durfte weiterbestehen, und der Zusammenschluss der beiden burgundischen Königreiche schritt voran. Doch der Kaiser hielt stets die Peitsche in der Hand. Wenn sie es für erforderlich hielten, konnten er oder seine Nachfolger das Arrangement rückgängig machen und die burgundischen Angelegenheiten zu ihrem eigenen Vorteil neu ordnen.
Im 10. Jahrhundert wurde allmählich die künftige Gestalt Europas sichtbar. Im Westen bildeten sich im Zuge der langwierigen Reconquista gegen die Muslime wieder christliche Staaten auf der Iberischen Halbinsel. Der erste König von Gesamt-England bestieg den Thron (siehe dazu S. 86). Unter Hugo Capet (reg. 987–996) und seinen Nachfolgern wurde das Westfrankenreich allmählich zu Frankreich umgestaltetB, und die drei ottonischen Herrscher von Sachsen formten jenen Staat, der im Laufe der Zeit zum Heiligen Römischen Reich werden sollte. Als die Erinnerungen an die Franken verblassten, verschwanden auch alte Namen wie Westfrankenreich oder Neustrien und Ostfrankenreich oder Austrasien und wurden durch Frankreich und Deutschland ersetzt. In Italien hatte der Papst sowohl politisch wie auch geistlich an Autorität gewonnen. Im Osten schwanden der Einfluss von Byzanz und der orthodoxen Kirche, und es entstanden neue Staaten. Nach den Ungarneinfällen 895 gingen die Jahrhunderte der Auseinandersetzungen mit den Barbaren in Europa schließlich zu Ende. Bulgarien, Polen, Ungarn und Rus sowie Frankreich, England und Deutschland waren die neuen politischen Akteure. Trotz seiner vielfältigen Wandlungen hatte Burgund mittlerweile ein stattliches Alter erreicht.
Obwohl willkürlich geschaffen, war das Königreich der beiden Burgund – Le Royaume des Deux Bourgognes –, das nach seiner Hauptstadt meist als »Königreich Arelat« bezeichnet wird, alles andere als ein künstliches Gebilde. Es bildete eine natürliche geografische Einheit, bestand aus dem Tal der Rhône und deren Nebenflüssen zwischen den Gletschern und dem Meer. Es beruhte auf dem historischen Burgund und besaß eine gemeinsame postlateinische Kultur. Im Norden verfügte es durch die »Burgundische Pforte« über einen Verbindungsweg zum Rheinland; im Süden war es über die Häfen Arles und Marseille mit Italien und Iberien verbunden. In geopolitischer Hinsicht lag es gewissermaßen im Windschatten jener Stürme, die über die Nachbarstaaten hinwegfegten. Die Zeichen standen gut für eine erfolgreiche historische Entwicklung. Das war das sechste burgundische Reich, gemäß der Auflistung von James Bryce war es Nr. V.
Im ersten Jahrhundert seines Bestehens konnte das Königreich Arelat jene dynastischen Krisen vermeiden, die vielen ähnlichen Staaten zu schaffen machten. Die zwei Nachfolger von Rudolf II., Konrad (reg. 937–993) und Rudolf III. (reg.