Er zerstörte aber auch die Hoffnung, dass das Regnum Burgundiae in naher Zukunft wieder auferstehen könnte.
Im Jahrhundert nach Karl Martell blühte das Frankenreich zunächst auf, geriet dann in Schwierigkeiten und zerfiel schließlich. Karl der Große hielt sich die meiste Zeit entweder im Norden, in Aachen, auf oder war mit Konflikten an der Peripherie seines Reiches beschäftigt, mit Kriegen gegen die Mauren, die Slawen und die Awaren, und mischte sich kaum in die Angelegenheiten Burgunds ein. Doch 773 versammelte er im burgundischen Genf eine große Armee für seinen lombardischen Krieg. Ermutigt durch Unterstützungsbekundungen des Papstes, zog er mit seinen Truppen in zwei großen Marschkolonnen über die Alpen, wobei eine den Pass des Mont Cenis und die andere den Großen Sankt Bernhard überquerte. Nachdem er Pavia, die Hauptstadt der Lombardei, nach langer Belagerung niedergeworfen hatte, kroch er als Büßer auf den Knien die Stufen des Petersdoms hinauf. Später schuf er in Rom den ersten Kirchenstaat.52
Wie es unter seinen Vorfahren üblich gewesen war, beabsichtigte auch Karl der Große, sein Reich zwischen seinen Söhnen aufzuteilen. Am Ende blieb das Reich jedoch als Einheit erhalten, da nur einer seiner Söhne überlebte; erst 843 wurde es schließlich unter seinen drei Enkeln geteilt. Die Teilungen des Frankenreiches durch den Vertrag von Verdun sollten für lange Zeit bestehen bleiben und die europäische Geschichte nachhaltig beeinflussen. Einer der Enkel erhielt das westfränkische Reich, aus dem sich später das Königreich Frankreich entwickelte. Ein anderer bekam das ostfränkische Reich, aus dem schließlich Deutschland erwuchs. Der älteste Enkelsohn erhielt einen langen Streifen in der Mitte und zugleich die Kaiserwürde. Das »Mittelreich« (Lotharingien) von Lothar setzte sich aus drei Gebieten zusammen. Ein Territorium im Norden erstreckte sich von der Nordsee bis nach Metz, wofür sich der Name Lotharingien (Lothringen) einbürgerte. Der zweite Teil, der in der Mitte lag, war ein erweitertes »Burgundia« einschließlich der Provence. Das dritte Gebiet war ein langer Schlauch, der sich nach Süden durch Italien und bis nach Rom erstreckte. Als integrierte Einheit war Lothars Herrschaftsgebiet ziemlich kurzlebig, doch seine Bestandteile konnten sich lange Zeit der Angliederung an Frankreich oder an Deutschland entziehen. Burgund erwies sich am widerständigsten.
In der karolingischen Geschichte spielte die Zahl drei eine wichtige Rolle; dreimal gab es eine dreifache Reichsteilung. Man kann sich leicht merken, dass jeder der Enkel von Karl dem Großen ein Drittel erhielt und dass Lothars »Mittelreich« aus drei Teilen bestand. Doch der dritte Schritt wird häufig vergessen. Fünfzig Jahre nach dem Vertrag von Verdun wurde das ehemalige Regnum Burgundiae, das jetzt das Mittelstück des Mittelreiches bildete, abermals in drei Teile geteilt. (Die Eselsbrücke dafür lautet »3 × 3 × 3«.) Diese letzte Teilung erfolgte in drei Stadien – in den Jahren 843, 879 und 888 [Verträge von Ribemont, d. Red.] – und brachte drei neue Reiche hervor: das Herzogtum Burgund im Nordwesten, das Königreich Niederburgund im Süden und das Königreich Hochburgund im Nordosten.
Die erste Aufspaltung des Reiches von Karl dem Großen im Jahr 834 war daher nur der erste Schritt in einem längeren Prozess. Lothar erhielt zwar den größten Teil des burgundischen Reiches, einschließlich Lyon, aber ungefähr ein Achtel wurde dem Westfrankenreich zugeschlagen. Die Ausgliederung dieses strategisch bedeutsamen Teils, der aus dem oberen Tal des Flusses Saône bestand und auch Guntrams Hauptstadt Chalon umfasste, war eine der wenigen Bestimmungen des Vertrages von Verdun, die sich als dauerhaft erwies, und verschaffte den neuen Herrschern einen Brückenkopf an den Südhängen der kontinentalen Wasserscheide. Somit verfügten die Streitkräfte des Westfrankenreiches und später die Armeen Frankreichs über ein geschütztes Einfallstor nach Italien.
Im Vertrag von Verdun erhielt dieses neue Territorium des Westfrankenreiches den Namen Regnum Burgundiae, doch diese Bezeichnung war juristisch praktisch bedeutungslos, denn dem Gebiet wurde lange Zeit kein besonderer Status verliehen. Eine dauerhafte Lösung wurde erst in den 880er-Jahren gefunden, als im Westfrankenreich die Verwaltungsstrukturen reformiert und Herzogtümer und Grafschaften gebildet wurden. Dabei wurden sieben Prinzipate eingerichtet, an deren Spitze ein dux (Herzog) stand, dem eine Vielzahl kleiner und großer Grafen untergeordnet war. Das Herzogtum Burgund nahm nun seinen Platz ein neben Aquitanien, der Bretagne, der Gascogne, der Normandie, Flandern und der Champagne. Es verkörperte Burgund Nr. X auf der Liste von Bryce, wenngleich es chronologisch das vierte burgundische Reich war.
Erwartungsgemäß blieb das Herzogtum nicht von Konflikten verschont. Die Hauptfigur in einer Reihe von komplizierten Auseinandersetzungen war Richard Justitiarius, genannt »der Gerichtsherr« (um 850–921), ein Bruder der westfränkischen Königin Richildis, der Ehefrau von Karl dem Kahlen. Richard, dessen Familiensitz in Autun lag, reiste nach Rom, als sich Karl um die Kaiserwürde bemühte, wurde schließlich mit der Verwaltung des (westfränkischen) Burgund beauftragt und erhielt zunächst den Titel marchio (Marquis oder Markgraf) und später den Titel Herzog. Berühmt wurde sein Bekenntnis auf dem Sterbebett: »Ich sterbe als Räuber, aber ich habe das Leben ehrbarer Männer verschont.«
Nach 1004 übernahmen die französischen Könige die direkte Herrschaft über das Herzogtum von den Nachkommen des Gerichtsherrn. Manchmal wurde das Herzogtum als Lehen vergeben, andere Male unterstand es dem König persönlich. Bis 1361 gab es zwölf Herzöge, angefangen mit Robert le Vieux (gest. 1076) bis zu Philippe von Rouvres (reg. 1346–61). Zu den abhängigen Vasallen gehörten die Grafen von Chalons, von Mâcon, Autun, Nevers, Avallon, Tonerre, Senlis, Auxerre, Sens, Troyes, Auxonne, Montbéliard und Bar; alle diese Fürstenhäuser können auf eine lange, wechselvolle Geschichte zurückblicken. Später wurde das Verwaltungszentrum des Herzogtums nach Dijon verlegt, das an einem nach Süden fließenden Nebenfluss der Saône liegt, der passenderweise Bourgogne heißt und über das Plateau de Langres den Zugang zur Champagne oder flussaufwärts zum Oberlauf der Seine und nach Paris ermöglicht.53
Im Herzogtum Burgund gab es bereits altehrwürdige Klöster, doch nun kamen noch neue hinzu. Die 910 gegründete Abtei Cluny, die der Regel des hl. Benedikt folgte, gilt als Ausgangspunkt bedeutender abendländischer Klosterreformen; sie war die Alma Mater von drei oder vier Päpsten.54 Die Abtei Tournus, ebenfalls im 10. Jahrhundert gegründet, bewahrte die Überreste des hl. Philibert, der den Märtyrertod gestorben war. Die Abtei Cîteaux, das Mutterhaus des Zisterzienserordens, entstand im Jahr 1098. Der hl. Bernhard von Clairvaux (1090–1153), ein späterer Förderer der Tempelritter, trat als junger Mann in dieses Kloster ein,55 und am 31. März 1146 rief er im großen Saal der Abtei Vézelay zum Zweiten Kreuzzug auf. Die Abtei Pontiguy am Fluss Yonne stammt ebenfalls aus der Zeit Bernhards.
Den Mönchen dieser burgundischen Klöster wird auch die Wiederbelebung der in Vergessenheit geratenen Weinbaukultur zugeschrieben. Sie waren nicht die Pioniere des Weinbaus, denn schon zu Zeiten König Guntrams wird von der Schenkung eines Weinbergs an die Kirche berichtet. Doch die Mönche konsumierten Wein bei der heiligen Kommunion, und an den Hängen der Côte d’Or oder der »Côte de Baune« bauten sie zielstrebig Weingärten von unübertroffener Qualität auf; sie erfanden sowohl die Produktionsmethoden als auch die Fachbegriffe des cru, des terroir und des clos, die zeitlose Gültigkeit erlangen sollten. Die roten Burgunderweine werden aus der Traube Pinot Noir gewonnen; die meisten Lagen, die heute die Liste der Grand Crus anführen, wie etwa die Domaine de la Romanée-Conti in der Nähe von Vosne, die einst zur Abtei Saint-Vivant gehörte, Aloxe-Corton, die vom Domkapitel Autun in Bewirtschaftung genommen wurde, oder Chambertin, die von der Abtei de Bèze begründet wurde – sie alle begannen als mittelalterliche kirchliche