Der Ort war in einem besseren Zustand, als der, aus dem ich stammte.
Nicht länger hüpfend und schwankend begann sich der Wagen langsam auf der Straße in die Badlands zu bewegen, die sich von Schlaglöchern und Steinen in asphaltierte Straßen und Kopfsteinpflasterwege verwandelt hatte. Wir fuhren eine breite Hauptstraße entlang, die von Geschäften gesäumt wurde und sich von den Toren bis zum Fuß des Berges erstreckte.
Ich hob das Kinn von meinen Knien und ließ die Beine los, um näher ans Fenster zu rutschen. Obwohl die Mauern hoch waren, war der Ort so groß, dass ich nicht sehen konnte, wo er anfing oder aufhörte. Unter uns lag das Meer, verspottete die Gefangenen mit salziger Luft und dem Versprechen auf einen Horizont, den sie nicht sehen konnten. Ich fragte mich, ob irgendwer jemals versucht hatte auf diesem Weg zu entkommen und wie weit sie wohl gekommen waren.
Zwei junge Mädchen in T-Shirts und Shorts standen unter dem Vordach eines Delikatessenladens und sahen zu wie wir vorbeifuhren. In den Händen hielten sie Plastikeinkaufstaschen und unter den Armen hatten sie Regenschirme geklemmt.
Man hatte sie der Freiheit beraubt, aber immerhin waren sie trocken, dachte ich sarkastisch. Männer auf Pferden ritten zur Seite, nickten uns zu. Eine Gruppe Frauen mit Obstkörben auf den Schultern stand zusammen und eine schubste eine andere an die Schulter, als wir vorbeifuhren.
Der Regen begann zu fallen und hörte wieder auf. Kaum einer der Passanten hielt nicht an, um uns anzustarren, als wir uns den grünen Bergausläufern näherten, die dicht bewaldet waren. Ich hatte keine Ahnung was ich von dem, was ich gesehen hatte, halten sollte. Verwirrt und ein bisschen schwindelig lehnte ich mich auf dem Rücksitz an.
„Mehr, als man auf Anhieb aufnehmen kann?“ Cristiano ließ die Trennscheibe herunterfahren. Wolken verdunkelten den Himmel aber der Fahrer schaltete die Scheibenwischer aus, als kaum noch Regen fiel. „Du kannst das Haus da vorn sehen“, sagte Cristiano.
Ich versuchte nicht, meine Neugier zu verstecken. Ich duckte mich etwas, um durch die Windschutzscheibe zu blicken und sah es sofort. Ein mehrstöckiges Haus, das in die Bergwand hineingebaut war, mit weißen Wänden, einem roten Terrakottaziegeldach. Torbögen hoben sich in einer klaren Linie ab.
„Von hier habe ich alles gut im Blick“, sagte er.
Ich hatte keinen Zweifel, dass Cristiano seine Augen überall hatte.
Wie sich herausstellte, verlief die Hauptstraße nicht direkt zum Fuß des Berges. Wir umfuhren die Eingrenzung eines großen Platzes, nicht unähnlich dem, von dem wir gerade kamen, in dessen Mittelpunkt ebenfalls eine Kirche stand. Ich ließ mich aber nicht täuschen. Diego und Tepic hatten durchblicken lassen, dass die Geschäfte und harmlosen Büros hier der Geldwäsche dienten. Die Kirche könnte ein Scheingebäude sein oder einfach nur ein grausamer Witz über falsche Hoffnung in einem gottlosen Land.
Jemand hatte Stände errichtet, genauso wie daheim, obwohl die meisten ihre Waren einpackten und der ein oder andere Stand im Regen alleingelassen wurde. Ein paar Kindern liefen barfuß von Bude zu Bude, hüpften auf und ab mit den Händen wie eine Schale geformt. Sie zogen an den Kleidern der Frauen, die gerade alles einpackten, von angemalten Figuren aus Holz bis hin zu Talavera Kacheln und bunter Kleidung.
„Sie hätten gern Schokolade“, sagte Cristiano.
„Sehr traurig.“
„Traurig?“, fragte er. „Sie wollen doch nur Oster Süßigkeiten.“
Komischerweise trugen die Frauen bunte Kleider und hatten ihre Stände und Buden mit Blumen geschmückt, sowie mit roten, weißen und grünen Krepp-Bändern und dazu passenden Wimpeln. Die Mülltonnen waren randvoll mit Papptellern und Plastiktrinkbechern, sodass es aussah, als kämen wir gerade zum Ende eines Festes an.
„Fahr rechts ran“, sagte Cristiano und der Fahrer parkte am Straßenrand. Cristiano öffnete seine Tür und lief auf die Frau zu, die Kleidung von den Bügeln nahm und sie gefaltet in eine Kiste legte.
Als sie sah, wie er auf sie zukam, trat sie einen Schritt zurück und winkte ihn mit der Hand weg. Er hielt ihr etwas hin, schnappte sich ihre Hand und drückte es in ihre Handfläche, dann ging er von einer gelben Decke in die Hocke, auf der lederne Huarache Sandalen lagen.
Ich hatte keine Ahnung was er da tat, aber die Frau war offensichtlich dagegen.
Cristiano kam zurück, sein Hemd war fleckig von den Regentropfen. Er setzte sich neben mich und reichte mir ein Paar braune Ledersandalen.
„Die sind bequemer“, sagte er.
Ich nahm sie, denn ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ich drehte und wendete sie in meinen Händen, bewunderte das detaillierte Handwerk und die gute Lederqualität. Er sah nach vorn, als wir weiterfuhren und sah nicht so aus als ob er einen Dank von mir erwartete.
„Die sind sehr gut verarbeitet“, sagte ich. „Sie sehen teuer aus.“
„Maricela versteht ihr Handwerk. Ich habe ihr gesagt, sie soll mehr verlangen, aber sie weigerte sich, also habe ich ihr das Doppelte bezahlt.“
„Du hast sie bezahlt?“
„Natürlich.“ Er sah herüber und fuhr mit dem Finger über die Ledersohlen. „Sie erinnern mich an die Sandalen, die du getragen hast … als du noch klein warst.“
Ah. Ja. Ich umklammerte den weichen Lederriemen. Sie waren eine subtilere, erwachsene Version der geflochtenen Sandalen, die ich immer getragen hatte, die schon dunkel gewesen waren vor Schmutz und Sonne und von denen sich bereits ein paar Lederfäden gelöst hatten.
„Meine Mutter hat sie nicht leiden können. Sie sagte …“ Ich hielt inne. Ich hatte diese Sandalen an dem Tag getragen, an dem ich Cristiano in ihrem Schlafzimmer vorgefunden und sie sterbend auf dem Boden gelegen hatte.
„Was hat sie gesagt?“
„Nichts.“ Cristiano hatte es nicht verdient, dass ich meine Vergangenheit mit ihm teilte. Ich lehnte mich vor und zog die Sandalen an. Sie waren tatsächlich genau wie die, die ich getragen hatte bis sie sich fast auflösten und meine Mutter mich damit aufgezogen hatte, dass ich nur einen Schritt davon entfernt gewesen wäre, barfuß herumzulaufen. „Gar nichts.“
Das Auto fuhr in Serpentinen die Bergstraße hoch und bog dann auf eine bogenförmige Auffahrt zu Cristianos Haus ab. Bei näherer Betrachtung besaß das weiße, im spanischen Kolonialstil gebaute Haus schmiedeeiserne Fenstergitter, und es gab einen Weg aus Stein, der zu einer Rundbogentür aus massivem, dunklem Holz führte.
„Du hast kein Tor?“, fragte ich, als wir parkten. Jeder aus dem Ort könnte hier hochwandern und direkt vor der Tür stehen.
„Warte hier“, sagte er, nahm sein Jackett vom Sitz und stieg aus.
Ich lenkte meinen Blick vom Haus und sah zu der Klippe dahinter, auf der es stand. Tönerne Dachflächen, Gebäude aus Stein, Grün und Wüste umgaben den Ort. In der Mitte waren Geschäfte und viel Betrieb rund um die Hauptstraße, über die wir gekommen waren, und von dort aus führten Straßen zu vereinzelten Wohngebieten ab.
Eine schlanke Frau mit zarten, elfengleichen Zügen und langem, rotbraunem Haar kam die Stufen vor der Haustür herab, um Cristiano zu begrüßen. Er übergab ihr sein Jackett, berührte ihre Schulter und zeigte auf das Auto. Sie wickelte ihr außergewöhnlich dichtes Haar zu einem Knoten auf dem Kopf, nickte und ging zum Kofferraum.
Cristiano öffnete die Tür und bot mir die Hand zum Aussteigen an.
„Das ist Jazmin“, sagte er, als ich aus dem Land Rover stieg. „Sie wird sich um deine Sachen kümmern.“
Die