Das Sprechen der Wände. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783981837858
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Und Hans, unsere Intelligenzbestie, kommentiert sie. Er macht, so ganz nebenbei, seine Doktorarbeit über Verhaltensweisen von Kindern. Bei Verhaltensweisen und Psyche ist Freud nicht weit und der passt nun wirklich gut zu schweinischen Witzen und Sex. Finden wir.

      Wir lieben uns täglich bis zur Erschöpfung. Morgens, mittags, nachts. Wo sich gerade eine Möglichkeit ergibt. Wir wohnen bei einem Freund; der kommt aus dem Wegschauen, Weghören gar nicht mehr raus. Es stört uns nicht.

      Pläne. Lena wird bald ihr Studium aufnehmen. Hat das Glück, so wie Hans auch, aus einem Arbeiterhaushalt zu stammen. Die dürfen. Lena und Kunstgeschichte. Sie wird in die Tiefen der Leda, auch ohne Schwan, eindringen, die Formen der Nofretete erforschen, das Lächeln der Mona Lisa ergründen.

      Bin ich auf meinem Hocker eingenickt? Wie lange habe ich in dieser Stellung geschlafen? Es können nur Sekunden gewesen sein. Mir kommen sie jedoch wie Stunden vor. Der Tag ist inzwischen zur Nacht geworden. Habe ich meine Erinnerungen geträumt, oder waren sie einst Wirklichkeit? Gespenstisch der Baum vor den Gittern. Er ist durch die grellen Neonleuchten des stickigen Raumes angestrahlt und wirkt unwirklich weiß und kalt. Doch der Baum ist frei. Stört er sich an der Ostzone, der Stasi, der sowjetischen Besatzungszone, die sich seit Jahrzehnten DDR nennt? Mein Gott, wie schnell schränkt sich der Begriff Freiheit ein, wenn man Gitter vor und hinter sich hat. Wenn man in Maschinenpistolen blickt, in kalte Roboteraugen.

      Sie haben eine Pause gemacht. Das Verhör scheint sie mehr anzustrengen als mich. Etwa zwanzig Stunden sind nun schon vergangen und sie wissen noch immer nichts über mich. Nur das, was sie sich zusammenreimen. Die ersten Vernehmungsprotokolle sind abgetippt. Die sind von meiner Frau. Sagt der mit den Schweinsaugen. Es kann aber auch ein Bluff sein. Doch wozu bluffen? Haben die das nötig? Ich entscheide mich für JA. Die haben es nötig. Bitternötig, denn es gibt nichts, was wir verbrochen haben.

      »Isleib, wie Sie sehen, war Ihre Frau weitaus vernünftiger als Sie. Jetzt sagen Sie uns mal die ganze Wahrheit über das Verleihen von dem Wartburg und Ihre Fluchtvorbereitungen, und dann können Sie dementsprechend wieder gehen. Meinen Sie, es macht uns Spaß, Sie hierzubehalten? Ihre Frau ist längst wieder Zuhause. Die wartet auf Sie. Vielleicht können Sie es mit ihrer Ehe ja noch mal versuchen.«

      Ein Stein fällt mir vom Herzen. Aber nur für Sekundenbruchteile. Karin wieder zu Hause. Nein, das geht nicht. Die können sie nicht wieder ziehen lassen. Das macht keinen Sinn. Karin würde unsere Freunde benachrichtigen. Ja, das würde sie sicher tun. Sie warnen.

      Du glaubst, was du glauben willst.

      Die ekelhafte dünne Stimme zitiert aus dem angeblichen Protokoll meiner Frau. Ausschnitte aus Gesprächen, die tatsächlich stattgefunden haben. Es ist ihre Sprache, es ist meine Sprache. Ja, so reden wir. Sie verstehen ihr Handwerk. Haben sie durch ihre Psychologen erst mal erkannt, wie der Einzelne auf gewisse Anschuldigungen reagiert, wie und in welcher Art er antwortet, dann empfinden sie solche Protokolle ziemlich genau nach. Rekonstruieren aus dem Wortschatz, der Art des Denkens des „Verbrechers“ und den meist geringen, in Details nicht stimmigen Informationen über ihre eigenen Recherchen und die Berichte der Zuträger ein Bild, das den gesuchten Vorgängen oft verdammt genau entspricht. Millimetergenau liegen sie neben der Wahrheit. Damit verunsichern sie. Auch mich.

      Mortz und seine Freunde, die schon seit acht Wochen vermutlich im gleichen Stasiknast sitzen und in Zellen hausen müssen, von denen ich noch keine Vorstellungen habe, entledigten sich aller inneren Konflikte und haben voll ausgepackt. Denn sie glaubten, was man ihnen sagte: »Wenn Sie uns alles sagen, können Sie wieder gehen. Wir sind doch keine Unmenschen …«

      Durch das Belasten anderer Personen sich selbst freikaufen. Die Seelen entlasten. So funktioniert das aber nicht. Das geht nicht gut!

      Und mit der bröckchenweisen Story, die sich zu einem „Geständnis“ formte, wuchs die Gefahr für mich, für Karin. Durch Mortz und dessen Freunde wissen die, dass ich weiß, dass mein von mir verliehener Wartburg direkte „Beihilfe zur Republikflucht“ leistete. Ich habe somit ebenfalls Beihilfe zur Republikflucht begangen, nicht nur mein Auto, das sie sicher gleich mit verhaftet haben.

      Das ist nicht viel, aber es reicht, um mich festzuhalten, um mich für mindestens zwei Jahre einzusperren. Und niemand schert sich um den Isleib. Nein, das stimmt nicht. Es gibt Menschen, die es berühren wird, sollte es denn so sein müssen. Aber was können sie dagegen unternehmen? Wie helfen? Wer kann mich hören? Wie soll ich protestieren, wie mich zur Wehr setzen?

      Einen Haftbefehl bekomme ich nicht zu sehen. Wozu auch, ich kann mit ihm nichts anfangen. Vorzeigen kann ich ihn ebenfalls nicht und in den Westen wird er nie gelangen. Die Machthaber dieses sogenannten Rechtsstaates haben von ihren Vorgängern im Dritten Reich gelernt gründlich zu sein.

      Karin scheint bestätigt zu haben, dass wir von der Fluchtvorbereitung des Ingenieurs Krug gewusst haben. Durch Mortz. Klar, das kann fingiert sein, kombiniert sein, aber es steht jedenfalls auf dem Papier, das sie mir vorlegen und es ist von ihr unterschrieben. So genau kenne ich ihre Unterschrift. Andererseits: Papier ist geduldig, Unterschriften kann man fälschen. Gut fälschen. Wir sind die Stasi, hoppla!

      Hat Karin aufgegeben? Ist sie den Versprechungen der Stasi erlegen? Was hat sie noch ausgeplaudert? Ich könnte es verstehen. Was kann ihr im Moment das Leben noch bedeuten. Die Ehe kaputt. Der geliebte, noch immer geliebte Mann hat eine Andere …

      … und durch ihn sitze ich im Gefängnis, in Stasi-Haft? Hat er mir nicht schon genug angetan, dieses Schwein. Er ist schuld! Er hat mich in diese Situation gebracht. Ich habe doch das Auto nicht verliehen! Das war er. Nur er! Warum soll ich jetzt büßen, für Dinge leiden, die mich im Grunde genommen nichts angehen? Außerdem hatte er während der Zeit schon seine Neue. Was wird aus mir? Wie komme ich hier wieder raus? Was wird aus meinem Beruf; darf ich ihn noch ausüben? Wie kann ich den Schmerz bewältigen? Ach Mist, ich liebe ihn doch noch immer ...

      Übelkeit.

      Ganz langsam steigt sie den Hals hoch, würgt mich. Die Gedanken an Karin zerfressen mich. Ich habe Schmerzen, die immer unerträglicher werden, bin müde, todmüde. Die notwendigen Medikamente fehlen, gegessen habe ich nichts. Sie gaben mir nichts. Ein Liter Wasser wäre gut! Mein Rücken schmerzt; seit über zwanzig Stunden sitze ich auf dem kleinen, verdammt harten Hocker und kann mich nicht eine Sekunde entspannen. Ich möchte kotzen, ihnen die Bude vollkotzen.

      Der Dicke und seine beiden Mitarbeiter rauchen eine Zigarette nach der anderen. Es stinkt. Kaffeeduft, mieser Ostkaffee, zieht an meiner Nase vorbei. Sie schlürfen ihn genießerisch in ihre Mäuler, aus denen in den mir endlos lang erscheinenden Stunden nur dummes Geschwätz kam. Ihre Visagen drücken eine gewisse Zufriedenheit aus. Wir haben Macht. Wir sind die Bosse. So ein Verhör, oh, Pardon, Genosse: So eine Vernehmung kann doch der schönste Orgasmus sein. Wir haben die Macht. Wir, die Speerspitzen der Partei. Und der sitzt wie ein Häufchen Elend da, der langhaarige, verstockte, widerliche Klassenfeind!

      Sie brüllen, sie locken, sie schmeicheln. Und zwischendurch fressen sie laut schmatzend belegte Brötchen. Arbeit strengt an.

      »Mensch, Isleib, wollen Sie nicht endlich einsehen, dass wir keine Unmenschen sind«, lockt der Dicke, während er sich mit dem Handrücken Fettkrümel aus dem Mundwinkel wischt. »Sie sind doch ein intelligenter Typ. Geben Sie Ihren Fehler zu. Sagen Sie uns einfach die Wahrheit, dass Sie abhauen wollten. Über alles andere können wir doch dann reden. Wir sind doch dementsprechend keine Unmenschen. Denken Sie doch mal an Ihre Frau. Auch wenn Sie sie ständig betrogen haben. Geben Sie sich einen Ruck und befreien Sie sich von der Last ihres Verbrechens. Wir kommen sowieso dahinter!«

      Sie sprechen ohne Pause, fragen, bekommen keine Antworten, fragen wieder, versuchen in Details zu gehen, die sie sich ausspinnen, lenken ab und fragen, fragen, fragen. Und mir geht es einfach nur noch beschissen.

      Wie schön, endlich mal was Anderes:

      »Haben Sie nicht vor drei Tagen in Weißenfels gespielt?«, fragt der junge Typ, der mit den fahrigen Augen.

      Und dann erzählt er begeistert von dem Abend. Ja, er wäre auch da gewesen und die Stimmung sei so toll gewesen, und das Publikum wäre ganz schön wild gewesen und überhaupt –