Das Sprechen der Wände. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783981837858
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werden, dass die überwiegende Mehrheit eines Volkes sich der Ideologie und deren Machthabern dermaßen widerstandslos hingibt. Ohne zu reflektieren. Tumb und träge in ein Regime hinein trottet, das zutiefst verbrecherisch mit dem Individuum Mensch umgeht.

      Was ist Recht? Wessen Recht? Was ist Ethik? Wessen Ethik? Kann man auch Ethik mit verschiedenem Maß messen? Freiheit – wie darf man sie auffassen? Dachdecker und Anstreicher, Tischler und Schwafler, die beiden Maden des Volkes, die das Land regieren, reden von Freiheit und meinen Zwänge. Sie nennen sich Kommunisten und sperren ein ganzes Volk – sich inklusive, wenn auch mit selbstgeschaffenen Privilegien – in ein riesiges Gefangenenlager. Umgeben von Minen, Stacheldraht, Mauern, Selbstschussanlagen. Jedes sich ihnen nähernde Lebewesen zerfleischen Hundestaffeln. Wachposten mit Maschinenpistolen, die auf alles schießen, was annähernd wie ein Mensch aussieht – noch einmal, wieder und immer wieder sei es gesagt, weil es so unvorstellbar und doch wahr ist.

      Wozu die Maschinenpistolen rund um mich herum? Ist der, der Angst hat, und vor dem SIE Angst haben, frei? Ja, ja, ja: Ich will weg! Weg aus dem Staat des größenwahnsinnigen Dachdeckers aus dem Saarland. Erst ein österreichischer Gefreiter, dann ein tischlernder Zuhälter, jetzt der debile Dachdecker. Und das alles in weniger als vierzig Jahren. Was kann er mir schon bieten, der um internationale Anerkennung buhlende Klippschüler. Ich muss raus, muss weg aus dem spießigen, kleinbürgerlichen Mief, aus der Gefangenschaft der Körper und Seelen, dem Konzentrationslager, das unter russischer Ägide aus diesem Teil Deutschlands gemacht wurde, der sich DDR nennt – Der Dumme Rest.

      Ich habe keine Heimat mehr.

      Das Erkennen ist schmerzhaft, bitter. Und es trifft mich in einer Situation, die nicht beneidenswert ist. Ich bin vom normalen Strafgefangenen im großen Straflager in die ganz speziellen Fänge des Staatssicherheitsdienstes geraten. Ich muss Schlüsse ziehen, die ich über Jahre vermieden habe zu ziehen, weil das Stückchen Erde, die Menschen in meiner nächsten Umgebung, Freunde, Familie, meine Heimat waren.

      Mein Leben wird sich verändern müssen. Ich muss mich von Vertrautem, Geliebten losreißen. Total. Schon in den nächsten Minuten kann sich meine Zukunft entscheiden. Ich kenne den Weg. Theoretisch. Freunde sind ihn gegangen. Mal sehen, wie die Praxis aussieht. Öffentlich bekennen, dass man nicht nur ein sich Widersetzender ist, bekennen, dass man ein Gegner des Arbeiter- und-Bauern-Staates ist. Hart, deutlich, überdeutlich. Knallhart. Unverrückbar. Nicht schwanken, nicht eine Sekunde wanken. Dann einen Antrag auf Ausweisung aus der DDR stellen, den richtigen Anwalt nehmen, dessen Namen ich kenne, und Geduld haben. Warten, warten, warten. Im Zuchthaus. Ein langer, entbehrungsreicher Weg. Doch gibt es hierzu eine Alternative?

      Nein.

      Ist man sich der Strapazen bewusst, kann man die Jahre im Zuchthaus vielleicht ziemlich schadlos überstehen. Natürlich gehört auch Glück dazu, denn die Wege der Entscheidung des Staatsapparates, der Stasi, letztlich Honeckers und Mielkes, sind unkalkulierbar. Nicht jeden geben sie frei. Nicht jeden verkaufen sie. Aber man kann sich in die Augen sehen.

      Das zählt.

      Der Entschluss, den ich auf dem Hocker sitzend in Sekunden treffe, heißt auch für mich, dass ich alles aufgeben muss: Eltern, Geliebte, Freunde, Mitmusiker. Für die ostzonalen Verhältnisse einen gewissen materiellen Wohlstand. Der Entschluss bedeutet, konsequent durchgezogen, nackt, nicht mehr ganz jung, in den anderen Teil Deutschlands zu kommen, den ich nur schlecht kenne. Die gleiche Sprache. Sprechen wir sie noch? Genügt das? Bin ich gerüstet? Reicht meine Kraft, reicht die Ausbildung, die mir – als Sohn bürgerlicher Eltern – zuteil wurde und die wahrlich nur mittelmäßig ist? Wie viel Leid, Schmerz, Schikanen werde ich ertragen können? Welchen Repressalien werden die ausgesetzt sein, die zu meiner Familie, zu meinem Dunstkreis gehören? Denn auch sie werden schwere, sehr schwere Zeiten durchstehen müssen. Und: Wir alle werden uns nie wiedersehen. Denn ein Feind des Staates und Republikflüchtiger, ein Verräter des Ersten-Deutschen-Arbeiter-und-Bauern-Staates ist ein Aussätziger und die, die in der Menschenkette automatisch durch Verwandtschaft oder Freundschaft hängen, sind ebenfalls Aussätzige. Es gibt keinen gelben Judenstern mehr – man erkennt die Aussätzigen auch ohne!

      Gibt es zu den Gedanken des Frei-Sein-Wollens ein Gegenmodell? Was wäre die Alternative? Was bliebe, außer dem Wechsel zwischen Stasi-Zuchthaus und dem großen Stasi-Gefängnis DDR? Entlassen werden und leben, wo der Staat es befiehlt, Arbeit, die der Staat einem vorschreibt, Kontrolle rund um die Uhr, die letztlich wieder dazu führt, dass man, im günstigsten Fall, in ein Arbeitslager kommt, oder den gleichen Weg zurück in ein Stasi-Zuchthaus nimmt.

      »Wann haben Sie den ersten Kontakt zu der Schleuserbande aufgenommen?«

      »Zu welchen Schleusern?«

      »Die Sie nach Westdeutschland bringen sollten!«

      »Ich sage Ihnen doch schon die ganze Zeit, dass ich nicht abhauen wollte.«

      »Herr Isleib. Wie lange wollen Sie uns eigentlich noch für dumm verkaufen? Wir haben Beweise!«

      »Wovon reden Sie?«

      »Welche Organisation steckt dahinter. Die Namen der Schleuser!«

      »Ihr Ausdruck „Schleuser“ sagt mir nichts, sorry!«

      »Isleib, Sie haben eben gesagt, dass sie seit 1961 nach Westdeutschland wollen, also ungesetzlich die DDR verlassen wollen. Zu welchen staatsfeindlichen Gruppen haben Sie Kontakt aufgenommen?«

      »Begreifen Sie doch, dass ich die Zone nie ungesetzlich – wie Sie es sagen – verlassen wollte. Dass die Zone verhindert, dass Menschen dort hingehen und leben können, wo sie wollen, ist nicht mein Problem. Ich habe nie Versuche der Art, die Sie mir unterstellen, unternommen und daraus resultiert, dass ich keine Kontakte zu Leuten, die Sie „Schleuser“ nennen, gehabt habe!«

      Bei dem Wort „Zone“ dreht es dem Dicken mit den stechenden, wasserblauen Augen und den schmalen Lippen sichtlich den Magen um. Das mag er gar nicht. Irritiert blickt er zu seinen beiden Kollegen, erhebt dann seinen feisten Arsch aus dem ekelhaften, dunkelbraunen Kunstledersessel und kommt wie ein Stier auf mich zu, baut sich wie ein mickriger grauer Pfau vor mir auf:

      »Meinen Sie etwa die Deutsche Demokratische Republik? Sie! Das ist der Jargon des Klassenfeindes! Allein dafür könnten wir Sie für zwei Jahre hinter Gitter bringen! Haben Sie schon mal etwas von Staatsbeleidigung gehört? Sie sind ein Helfershelfer des Kapitalismus. Sie sind ein Klassenfeind. Sie sind ein kapitalistisches Stück Scheiße! Und Sie wollten sich von einer Verbrecherorganisation in den Westen schleusen lassen. Sie wollten die DDR verraten! Das wissen wir!«

      »Haben Sie Beweise?« Etwas Besseres fiel mir im Moment zur Erwiderung nicht ein. Denn Beweise brauchen die nicht.

      »Umgekehrt, Isleib, wird ein Schuh daraus. Sie beweisen uns, dass es nicht so war! Aber das können Sie nicht, denn wir haben genügend Beweise gegen Sie und ihre staatsfeindliche Clique!«

      »Aus meiner politischen Haltung zu diesem künstlichen, durch Gewalt der Besatzermacht entstandenen Gebilde, dass Sie DDR nennen, habe ich nie ein Hehl gemacht. Ich lehne das durch die Russen als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges erzwungene Monstrum DDR entschieden ab. Aber es sind zwei verschiedene Dinge: Eine Haltung, eine andere Meinung zu bestimmten Fragen zu haben und eine andere politische Einstellung als Sie, und, um Ihre Definition zu benutzen, „strafbare Handlungen“ zu begehen. Wobei es für mich keine strafbare Handlung wäre, von einer Stadt in eine andere ziehen zu wollen. Sind Gedanken, geäußerte Wünsche, Lebensvorstellungen in Ihrem Staat auch strafbar?«

      Wie soll ich denen beweisen, dass ich keine Fluchtvorbereitungen getroffen habe? Sie wollen, dass es so ist und dann ist es auch so. Absurd. Ich kann gar nichts beweisen und sie glauben sowieso, was sie wollen. Sie haben sich ihr Bild über mich längst gemacht. Alles, was abläuft, ist reine Show, um die Restbestände ihrer kaputten, von absurden Dogmen beherrschten Seelen – sollten sie so etwas überhaupt in sich tragen – zu beruhigen. Die Typen müssen für sich selbst Argumente finden, warum sie sich so menschenverachtend verhalten. Aber vielleicht denke ich auch zu human, zu kompliziert. Sie sind Roboter des menschenunwürdigen Systems, ohne Seele und Verstand. Programmiert von Menschen, die noch primitiver, brutaler, vulgärer, menschenverachtender