Das Sprechen der Wände. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783981837858
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atmen können ... Quer vor dem vergitterten Fenster ein hellbrauner, billiger Schreibtisch. Leer. Davor ein Mann.

      Klein, dick. Vielleicht dreißig, oder ein wenig mehr. Grauer Anzug, hellblaues Hemd. Breiter, brauner Wollschlips. Stechende, wasserblaue, unruhige Augen. Zwischen ihm und mir ein langer, glänzender Konferenztisch aus Spanplatte. Hellbraun. Links und rechts von ihm rote Eisenstühle. Sechs. Nackt. Ohne Polster.

      Auf der rechten Seite, von mir aus betrachtet, sitzt ein junger Typ. Uninteressiert. Borstige, schwarze, kurz geschnittene Haare, Augen, die einen nicht anschauen können. Ihm gegenüber, auf dem mittleren Eisenstuhl der linken Seite ein Genießer. Genießer seiner unerhörten Macht. Groß, breite Schultern, drahtig. Intelligenter, gefährlicher Gesichtsausdruck. Schmale Lippen, ein Strich. Mehr nicht. Ein gefährlicher Arsch. Jeder Einzelne ein Ebenbild des totalitären Systems. Man sieht es ihnen an, erkennt sie. Ich habe sie schon immer erkannt. Sie sind unverkennbar. Aber deshalb nicht minder gefährlich. Zynische, kalte, taxierende Augen. Verächtlich der Blick. Immer. Sie wissen um ihre Macht.

      Unerfahrenheit gegen kalte Routine.

      In der äußersten, entgegengesetzten Seite vom Schreibtisch aus betrachtet, steht ein Hocker. Blickrichtung Fenster und, zwangsläufig, in die kleinen, flinken Schweineaugen des Dicken am nackten Holztisch.

      »Setzen!«

      Eine unmissverständliche Handbewegung weist mir den Hocker als Sitzplatz zu. Welche Ehre. Ich darf mich setzen. Nun mustern mich drei Augenpaare erst einmal minutenlang. Ritual. Routine. Abschätzend. Verängstigen. Methode. Wen haben wir da vor uns? Wollen mich nervös machen. So ein Unsinn! „Das bin ich doch längst“, möchte ich ihnen entgegenschleudern, aber ich sitze einfach nur ganz still auf dem Hocker und schaue auf den Baum, in der Hoffnung, dass er mein Leid verstehen möge und mir Kraft für das Bevorstehende schenkt. Sechs Augen mustern mich nach wie vor eiskalt, verächtlich, ausgiebig, genüsslich, angewidert, erstaunt, befremdet.

      »Sie sind Herr Isleib?«

      »Was fragen Sie!«

      »Antworten Sie gefälligst! Also: Sind Sie Herr Isleib? Dankmar Isleib, geboren am vierundzwanzigsten April Neunzehnhundertvierundvierzig …? Nicht dass uns hier eine Verwechslung vorliegt, Herr Isleib!«

      »Ich bin krank. Das wissen Sie. Ich verlange einen Arzt und meine Medikamente. Sie waren in der Jackentasche. Mit meinem Krankenschein. Das muss erst geregelt werden, sonst läuft nichts«, entgegne ich den stumpfen Gesichtern, die mich noch immer anstarren, als käme ich vom Mars.

      »Kennen Sie Fritz Mortz?«

      »Stellen Sie mich einem Arzt vor. Wenn der bestätigt, dass ich vernehmungsfähig bin, können Sie fragen.«

      Geplänkel. Sinnloses Geplänkel. Ich weiß, dass es völlig sinnlos ist, aber es beruhigt mich. Zumindest ein wenig. Wut. Angst bekämpfen.

      Das Verhör kann beginnen.

      Fritz Mortz ist ein Kollege aus unserem Institut. Wir sitzen, nein, wir saßen uns Schreibtisch an Schreibtisch gegenüber. Vor acht Wochen verschwand er. Zurück blieb sein Trabant auf dem staubigen Parkplatz des Instituts. Nur ein paar Tage. Dann verschwand auch der. Nachts.

      Fritz, aha. Das ist ein erster Anhaltspunkt. Ich kann mich einpegeln. Trotzdem: Das ist nicht alles. Worauf wollen sie hinaus? Die kleinen grauen Dinger unter meinen langen Haaren beginnen zu arbeiten. Synapsen verbinden sich.

      »Also, was ist?! Wie lange sollen wir noch auf eine Antwort warten!«

      Der kleine Dicke wird laut. Der Stumpfsinnige guckt böse, der breite, intelligente Typ wendet sein Haupt in meine Richtung und verschießt mit den Augen tödliche Giftpfeile. Es geht ihnen nicht schnell genug. Und so soll es auch bleiben. Ich will, ich muss den längeren Atem haben. Egal, wie lange die „Vernehmung“ dauern mag. Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre … Reicht meine Kraft dazu? Am liebsten würde ich schon jetzt das Handtuch schmeißen. Aber wohin? Sie haben einfach die bessere Ausgangsposition.

      Merde.

      »Sie haben dem Mortz im Sommer vergangenen Jahres Ihren Wartburg geliehen.«

      Feststellung.

      »Wann genau war das?«

      Von dieser Ecke weht der Wind. Stimmt, der Fritz hat sich mal meinen Wagen geborgt. Na, wenn das alles ist ...

      Mortz fragte: »Kannst du mir mal dein Auto borgen. Heute. Nur für ein paar Stunden. So ab sechs. Ich will ein paar Sachen aus der Wohnung vom Krug holen. Der will am Wochenende weg.«

      Vertrauen gegen Vertrauen. Sein Freund wollte abhauen. War in jenen Wochen in unserer Stadt sehr verbreitet. Ein Arzt nach dem anderen. Ingenieure, Facharbeiter, Künstler. Meist junge Familien, aber auch Singles. Abhauen – also von Deutschland nach Deutschland ziehen. Von Halle nach Hamburg. Von Berlin nach Berlin, von Dresden nach Dortmund.

      Das ist verboten!

      Das ist das größte Verbrechen in unserem „sozialistischen Heimatland“. Das ist Verrat am „Ersten-Arbeiter-und-BauernStaat“.

      Abscheuliches Verbrechen!

      Ein Kind vergewaltigen. Na gut. Eine Oma bestehlen, ihr die letzte Mark rauben, einen Kaufmann erpressen, na gut! Aber „Unsere Republik“ verraten?! In das absterbende, von Seuchen überzogene, modernde, stinkende, faulende kapitalistische System des Klassenfeindes gehen wollen? Das ist ein Verbrechen. Das größte!

      Ausgestoßener, du! Bis ans Lebensende. Verrat am sozialistischen Vaterland. Nie wieder wirst du ein Bein auf die Erde bekommen. Bist gezeichnet, auch ohne Stern am Revers. Deine Nummer ist nicht auf deinem Arm tätowiert, deine Nummer kann jeder von deiner Stirn ablesen. Weil du gebrochen bist. Weil du ein Aussätziger der Gesellschaft bist. Weil du keinen einigermaßen ordentlichen Job mehr bekommst, weil du nur noch ein mieses Stück Dreck im Staub des sozialistischen Vaterlandes bist.

      Vielleicht hast du einen Onkel in Köln, einen Bruder in Kassel? Oder du hast, durch Zufall, auf dem Bahnhof in Leipzig, während der Messe, ein tolles Mädchen aus Essen, einen eleganten Herrn aus Wiesbaden kennengelernt. Willst deinen von deiner Mutter geschiedenen Vater am Bodensee besuchen. Willst dich bei VW selbst davon überzeugen, wie sehr die Arbeiter im Kapitalismus ausgebeutet werden.

      Verbrecher!

      Oder du kannst den Druck nicht mehr ertragen. Die Parolen. Wohin du blickst, Parolen. Etwa: „Unser Sieg über den Kapitalismus stärkt den brüderlichen Kampf der unterdrückten Arbeiterklasse in den Ländern Afrikas!“ oder ähnlicher Schwachsinn.

      Oder du hast Angst vor deinem Nachbarn.

      »Kollege Isleib, morgen ist der Erste Mai. Sie haben noch keine Fahne draußen. Ich werde Ihnen eine bringen, damit Sie sich nicht schämen müssen. Sie wollen doch nicht den Klassenfeind stärken und unser Wohngebiet verunglimpfen!«

      »Kollege Isleib, Sie haben schon wieder einen neuen Schrank gekauft. Können Sie uns sagen, woher Sie eigentlich so viel Geld haben?«, fragt scheinheilig der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei, dessen Aufgabe es ist, in seinem Wohngebietsabschnitt alle wichtigen – und so etwas ist äußerst wichtig und staatszersetzend – Dinge und Veränderungen sofort zu überprüfen und an die nächst höhere Dienststelle weiterzuleiten.

      »Kollege Isleib, gestern stand wieder ein Westwagen vor Ihrer Tür. Glauben Sie, wir merken das nicht? Glauben Sie, das ist für Ihre Frau gut? Wenn das die Schüler Ihrer Frau sehen! Damit untergraben Sie die Autorität einer Lehrerpersönlichkeit, einer sozialistischen Menschengestalterin, und schaden entschieden dem ideologischen Kampf gegen die Kriegstreiber!«

      Ja, Angst. Angst, deinen Kindern deine Gedanken mitzuteilen. Ein Kindermäulchen plappert ja ganz arglos daher. Das könnte ein Lehrer hören. Ein unbedachtes Wort aus Kindermund, ein Witz über Ulbricht oder der Sohn ist nicht in der FDJ (Freie Deutsche Jugend), all das könnte die ganze Familie gefährden, Sanktionen nach sich ziehen. Unweigerlich!

      Aber du willst frei sein. Willst dich nicht gängeln lassen. Willst Entscheidungen über dich, dein Leben, deine Familie, deinen Alltag