Das Sprechen der Wände. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783981837858
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Schweiß.

      Januar.

      Eine Decke zum Zudecken. Und zum Draufliegen. Sonst nur Holz. Der Hals schmerzt. Ich bin ein Kopfkissen gewöhnt. Was ist eine Daunenbettdecke? Schemenhaft kann ich das Waschbecken erkennen. Davor der kleine Tisch, der Hocker, das vergilbte Klo. Die Zelle stinkt! Mein Puls rast.

      Scheißtraum!

      Verdammter Traum!

      Glitschige rote Wände …

      Ich muss kotzen.

      Das werden sie hören. Werden kommen und sich über meine Schwäche freuen.

      Schweine.

      Aber ich kann nicht leise kotzen. Das geht nun mal nicht! Macht immer Lärm. Dieses Würgen. Oh Gott, ist mir schlecht. Das war gestern schon so. Am grauenvollen Fraß allein liegt es nicht. Bin zu nervös. Mein Magen macht die Anspannung nicht mit. Immer nur Verhöre.

      Verhöre, Verhöre, Verhöre.

      Sie nennen es „Vernehmung“!

      Ich friere ganz erbärmlich und muss kotzen. Sofort. Kotzen strengt bloß so fürchterlich an. Aber es erleichtert auch. Für den Moment. Also vorsichtig hoch, nicht atmen, Luft und Kotze anhalten und zum Klo. Deckel hoch, schnell!

      Da sind sie schon. Wie die Geier. Lauschen nach jedem Geräusch. Klappe auf, Neonlicht an:

      »Ist Ihnen etwa schlecht? Können wir Ihnen helfen?«

      Was für eine dämliche Frage. Interessiert sie sowieso nicht. Scheinheilige Arschlöcher.

      Obwohl. Angst haben sie schon. Ist unangenehm, wenn einer abkratzt. Bürokratenkram. Und dringt unter Umständen sogar an die Öffentlichkeit, gar in den Westen. Beschmutzt die reine Weste des Sozialismus. Beförderung ad acta. Also fragen wir ihn mal, geilen uns an seiner Schwäche auf und tun so, also ob es uns interessiert. Wenn er »nein« sagt, gut, wir haben unsere Pflicht getan! Kommt ins Protokoll.

      Nun einen Schluck Wasser. Das tut gut. Warum bin ich nur so schwach!

      Hätte ich doch eine zweite Decke.

      Januar ist immer so kalt.

      II

      War das eine Woche!

      Manchmal passiert in unserem läppischen Leben monatelang nichts Aufregendes und dann kommt alles auf einmal. Dann gibt es kein Luftholen, kein Nachdenken. Die alltäglichen Dinge tut man unbewusst, automatisch, versucht, seine Probleme zu ordnen, und erlebt nur Chaos in sich.

      Silvester. Keine Zeit und zwei Frauen am Straßenrand.

      Strahlende Augen die eine. Runde, feste Brüste unter der kurzen Kunstpelzjacke und die geliebten, leicht gewölbten Schenkel mit dem kräftig hervortretenden Dreieck in einer hautengen, braunen Samthose.

      Flehende Augen die andere. Elegant wie immer. Ganz in Schwarz, hohe Stiefel, ein Pelzmantel. Eine Silhouette, die auffällt. Ich empfinde Mitleid. Ist Mitleid auch Liebe? Ist Mitleid noch Liebe?

      Ich wartete auf die eine, die andere wartete auf mich. Für beide wäre ein klärendes Gespräch notwendig gewesen.

      Silvester. Keine Zeit. Zwei Frauen.

      Ich bin ein Armleuchter.

      Oder bin ich stinknormal? Oder ein geiler Bock? Ich muss Schluss machen. Die flehenden Augen geben mir keine Chance.

      Sie liegt neben mir, atmet flach, jedoch ruhig. Sie trägt noch meinen Namen. Meine Gedanken kreisen um uns. Unser merkwürdiges Leben. Die Ereignisse der letzten Tage passieren blitzartig Revue. In Sekunden tun sich Jahre gelebten Lebens auf. Ein anstrengendes Gespräch liegt hinter uns. Sie nimmt Schlafmittel, atmet flach, jedoch ruhig. Ich kann sie verstehen. Für Karin ging gerade eine Welt unter.

      Ich bin so entsetzlich ausgelaugt. Möchte auch schlafen. Aber selbst der intensive Gedanke an ihre strahlenden Augen, ihre Wärme, das wunderschöne Dreieck der Begierde können mir keine Ruhe verschaffen. Ich höre ihre helle, glockenklare, gurrende Stimme, fühle ihre feuchten, gierigen Hände, die immer die Sprache der Liebe sprechen, immer in Sorge um mich sind. Hände können mehr, viel mehr als zupacken.

      Und dann dieser Morgen.

      Eisgrauer, trockener Januartag. Kein Tag in unserem wichtigen, unwichtigen Leben ist wiederholbar. Aber dieser? Wie werde ich ihn jemals wieder los? Wie kann ich die Erinnerung daran aus mir löschen? Kein Blackout. Es gibt kein Blackout. Alles ist klar vor mir. Jede Einzelheit. Immer. Wie lange wird es noch dauern?

      Klopfen an meiner Mansardentür. Spinne ich?! Ihr könnt mich alle mal. Bin gerade eingeschlafen und habe die quälenden Gedanken verdrängen können.

      Klopfen an meiner Mansardentür. Es frisst sich in meine Ohren, dringt in mein total unfrisches, denkfaules und zugleich sich quälendes, verwirrtes Gehirn. Mechanisch aufstehen. Bademantel überstreifen, Tür öffnen.

      Zwei Unbekannte stieren mich an. Komische Sache.

      »Sind Sie Herr Isleib, Dankmar Isleib? Ja? Dann ziehen Sie sich an! Sofort!«

      Ich blicke in Ausweise, aus denen mich nichtssagende, kalte schwarz-weiße Lichtbilder, hässliche Augen im Halbdunkel anglotzen.

      Staatssicherheitsdienst.

      Ich verstehe nichts. Gar nichts. Oder doch? Halt! Ein Bekannter, Kollege, wurde vor wenigen Wochen verhaftet. Sollte das, sollte er der Grund für den hässlichen Besuch sein?

      Die Herren sind zu viert. Einer im Garten. Einer im Treppenflur, zwei bei mir. Isleib. Musst verdammt wichtig sein!

      »Beeilen Sie sich! Wir haben wenig Zeit. Sie müssen mitkommen. Zur Klärung eines Sachverhaltes. Frühstücken können Sie bei uns, los, Tempo!«

      Waschen, rasieren, Schweißausbrüche. Zeit schinden. Gedanken ordnen. Mechanisch ziehe ich mich an; mein Verstand scheint im Eimer zu sein. Chaos türmt sich in mir auf.

      Freunde warnen. Aber wie?

      Wo ist meine Frau?

      Der Liebsten eine Nachricht zukommen lassen.

      Aber wie?

      Die Bücher verschwinden lassen, das Westgeld. Und überhaupt. Ich kann so nicht gehen. Da muss noch so unendlich vieles geregelt werden.

      Die Kerle mit den Robotergesichtern verfolgen jede meiner Bewegungen. Ich muss pinkeln. Dringend. Der starrt hin, als hätte er noch nie einen Schwanz gesehen!

      »Soll ich einen Mantel mitnehmen?«

      Januar. Kalt.

      »Ist Ihre Sache.«

      Na ja, wir fahren im Wagen, aber was ist, wenn ich zurückkomme ...? Wo ist der blöde Mantel. So, nun noch der Ausweis. Muss man in der Zone immer bei sich haben. Geld, der Krankenschein. Man kann ja nie wissen. Frisches Taschentuch. Hunger habe ich. Nervosität. Wie kann ich bloß eine Nachricht hinterlassen?

      Lena, Karin.

      Scheiße, verdammte Scheiße! Die lassen keine Sekunde von mir. Vier kalte, dumme, brutale Augen glotzen mich ununterbrochen an. Jeder Handgriff, jede Bewegung wird verfolgt, eingeordnet, abgeschätzt, begutachtet. Die haben Angst!

      Treppe runter, Tür auf, abschließen. Die hintere rechte Tür des grauen Wartburgs steht schon offen. Einer links, einer rechts. Ich sitze in der Mitte. Dann der Fahrer und der Letzte. Scheint der Boss zu sein. Kann sicher mindestens seinen Namen fehlerfrei schreiben.

      Schweigen.

      Ich müsste mich jetzt konzentrieren. Auf die kommenden Verhöre vorbereiten. Geht nicht, denn ich habe keine Ahnung, was die von mir wollen.

      Die Straße! Silvester – da standen sie beide. Keine zehn Meter voneinander entfernt. Und nun? Vorbei an den Neubauten. Die werden auch ewig nicht fertig. Läppisch, die bauen schon acht Jahre daran herum. Warmwasser gibt es noch immer nicht. Das kleine schwedische Heizkraftwerk steht nur provisorisch, weil das eigentlich geplante nicht fertig wurde. Geldmangel.