Das Sprechen der Wände. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783981837858
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in der Hierarchie des Systems der Staatssicherheit noch ziemlich weit unten.

      Nein, es liegt mir nicht, vor diesen unwissenden, armseligen Kreaturen den Märtyrer zu spielen. Wozu noch ein, zwei Jahre länger im Knast sitzen, nur um seine intellektuelle Überlegenheit zu demonstrieren? Stell dich so primitiv, wie sie es sind. Auch keine leichte Aufgabe, aber richtig. Argumentieren bringt nichts. Die sind taub, taub, taub. Es geht schließlich um mein Leben, so pathetisch es klingen mag, um das Wohlergehen meiner Lieben, auch wenn ich mein Leben, realistisch betrachtet, zum größten Teil mit dem heutigen Tag aus der Hand geben muss.

      Ich werde nicht kapitulieren.

      Nie.

      Da ist das Auto. Das habe ich verborgt und das wissen sie. Es gibt Zeugen dafür. Nichts zu machen. Bei den Gesprächen waren Mortz, seine Frau, Karin und ich dabei. Dann der Krug. Drei gegen zwei? Vier gegen einen? Alle an einem Strang. Nein. Varianten über Varianten. Die Flucht. Ist mir nicht zu beweisen, da sie von mir nicht vorbereitet wurde. Aber das Gegenteil kann ich in meiner Position auch nicht nachweisen. Das kann niemand, mal davon abgesehen, dass es sowieso überflüssig ist, da die wollen, dass es so gewesen ist, wie sie sich das in ihren tumben Köpfen zurechtbiegen. Sozialistische Rechtsprechung. Mit welchem Recht nehmen diese Marionetten eigentlich immer das Wort „sozialistisch“ in den Mund? Was bedeutet es eigentlich hier und heute?

      Die Machthaber rund um Herrn Hitler und seine Hintermänner erfanden nationalsozialistisch. Was sind wir nun? National ist weg, geblieben sozialistisch. Aus braunen Uniformen wurden graue. Aber es stecken die gleichen Geister darin. Die Farbe des nach außen getragenen Gedankenguts hat sich verändert. Von Braun auf Rot. Deutsch sind sie geblieben. Womit werden sich meine Häscher zufriedengeben? Werden sie über die Fluchtgeschichte hinaus mein Leben durchforschen? Oder haben sie das schon getan? Gibt es einen ganz anderen Grund, mich hierher zu holen, und bildet die dämliche Autogeschichte nur den Vorwand für etwas ganz Anderes? Denn wenn sie sich mehr Mühe mit mir gemacht haben, dann habe ich schlechte Karten. Es gibt eine Menge zu finden ... Daran darf ich gar nicht denken.

      Die Kräfte lassen nach, Schweiß bricht wieder aus, mein Herz rast im D-Zug-Tempo. Nur keine Miene verziehen. Nichts anmerken lassen. Äußerlich ruhig und gelassen bleiben. Keinen Angriffspunkt bieten. Nicht den fiesen Arschlöchern. Ja, ihr gottverdammten Arschlöcher! Ich schreie es in mich hinein, immer wieder. Muss mich aufbauen, puschen, Kräfte sammeln, Adrenalin bilden, um nicht völlig zusammenzuklappen. Ihr nicht! Nicht ihr! Meine Wut entspannt mich. Könnte ich doch nur irgendetwas schmeißen, meine Aggressionen loswerden.

      »Sie waren doch in der Schule ein ganz brauchbarer Schüler. Sie waren zwar nicht bei den Jungen Pionieren, haben sich aber vom gesellschaftlichen Leben in der Schule nicht ganz ausgeschlossen. Durch ihren Freund Günther kamen Sie sogar zur Gesellschaft für Sport und Technik und waren, wie wir erfahren haben, sogar ein hervorragender Schütze. Sie mieden zwar die FDJ, spielten aber dennoch in einem sozialistischen, politischen Kabarett mit. Aber dann gab es in ihrer Entwicklung plötzlich einen großen Knick. Fast über Nacht sind Sie wie umgewandelt. Wer hat Sie zu einer Antihaltung gegen unser sozialistisches Heimatland gebracht?«

      Schau an, sie kennen dein ganzes Leben. Zumindest vieles, oder sagen wir, einiges. Du hättest es wissen müssen, naiver Hund. Oberflächlicher In-Den-Tag-Lebender. Blöder Musiker. Immer helfen wollen, andere informieren. Auflehnen. Nur nicht klein beigeben. Freiheit wollen! Freiheit leben wollen. Ausleben. Heinrich Heine …

      An einen Politischen Dichter

      Du singst wie einst Tyrtäus sang,

      Von Heldenmut beseelet,

      Doch hast du schlecht dein Publikum

      Und deine Zeit gewählet.

      Beifällig horchen sie dir zwar,

      Und loben schier begeistert:

      Wie edel dein Gedankenflug,

      Wie du die Form bemeistert.

      Sie pflegen auch beim Glase Wein

      Ein Vivat dir zu bringen,

      Und manchen Schlachtgesang von dir

      Lautbrüllend nachzusingen.

      Der Knecht singt gern ein Freiheitslied

      Des Abends in der Schenke:

      Das fördert die Verdauungskraft

      Und würzet die Getränke.

      Sie kennen dich. Verflucht. Und du weißt nicht einmal ihren Namen, ihren Dienstgrad. Na ja, das ist auch egal. Aber ich hätte es mir denken können. Gutgläubigkeit hilft einem nicht weiter. Dass sie so zeitig mit dem Filettieren deines Lebens beginnen, deiner Vergangenheit. Dass sie bis in die Schulzeit zurück recherchiert haben. Sie haben dich also schon länger beobachtet.

      Naivität gegen kalte Routine.

      Es begann mit den Jeans. Damals nannte man sie noch Nietenhosen. Waren herrlich blau und amerikanisch. Symbol der Freiheit. Cowboy sein, durch weite Länder ziehen. Unaufhaltsam. Unverbogen. Eben frei sein. Abenteurer, Nietenhosen. Der Traum jedes Jungen. Und Sexsymbol für die Mädchen. Denn wer eine Nietenhose hat, hat auch Bekannte im Westen und wer Westbekanntschaft oder gar Westverwandtschaft hat, ist ein prima Kerl. So einfach war das Weltbild in den Jahren für Kinder und Jugendliche unseres Alters in dem zu der Zeit noch nicht eingezäunten, komplett verminten Teil Deutschlands.

      Die Beinkleider wurden Ende der fünfziger Jahre im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands zu einem Politikum. »Hast wohl 'nen Onkel im Westen? Prima, gib mir mal 'ne Westmark. Will auch eine haben!« Das war das Größte. Leute kennen, die frei sind. Und die konnten einfach so in einen Laden gehen und Jeans kaufen. Und dann in den Osten schicken. Fantastisch!

      Nietenhosen waren auf der Oberschule verboten. Aber es hielt sich fast keiner daran. Wer von uns Auserwählten wollte schon auf ein derart wichtiges und elementares Freiheitssymbol verzichten. Wer eine Nietenhose trug und in der Schule auch noch öffentlich zeigte, bewies Mut und war etwas Besseres.

      Eines Morgens fand außerhalb der üblichen Zeit ein großer Appell auf dem Schulhof statt. Jede Klasse war in Reih und Glied angetreten – schließlich sind wir ja hervorragend funktionierende Preußen! Vor uns, wie üblich, die gehissten und verhassten Fahnen der FDJ und der DDR und das gesamte Lehrerkollegium. Mit teilweise recht betretenen Mienen.

      Der Direktor:

      »FDJlerinnen und FDJler! Die Nietenhosen sind der Auswuchs der Unkultur einer absterbenden Klasse. Der Kapitalisten. Und der Kapitalismus ist unser Klassenfeind. Wenn ihr mit Nietenhosen in die Schule kommt, stärkt ihr damit unseren Klassenfeind und stellt euch gegen den ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden. Außerdem ist die Nietenhose eine Arbeitshose der durch den Kapitalismus unterdrückten Lohnknechte, und sie in der Schule zu tragen widerspricht der Moral und Ethik der Arbeiterklasse. Wer in Zukunft noch mit Nietenhosen in der Schule angetroffen wird, hat mit disziplinarischen Maßnahmen zu rechnen. Die Folgen könnt ihr euch ausmalen!

      Damit ist unser Appell beendet. Freundschaft.«

      »Freundschaft«, erwiderten die Schüler automatisch und pflichtbewusst. Ärger wollte keiner haben.

      Der Klassenfeind hatte zugeschlagen. Hart und erbarmungslos. Er hatte die Nietenhose erfunden. Um die Genossen zu ärgern. Jeans sind zwar ein Bekleidungsstück für die Arbeit, sagte man uns, aber nicht für die Arbeiter. Nur für gepeinigte Lohnknechte im „Kapilismus“, wie es Wilhelm Pieck in Ermangelung besserer Lesekenntnisse oft von sich gab, wenn er ein von seinen Vorschreibern gefertigtes Pamphlet verlesen sollte, was nicht gewisser Komik entbehrte. Die Ausbeuter höchstpersönlich tragen die Hosen blauen Tuches mit den Nieten an den Taschen. Na so was aber auch! Die durch die Kapitalisten ausgebeutete Arbeiterklasse des Westens und erst recht unsere braven Menschen in der ach so freien Ostzone werden durch sie ideologisch verseucht. Das ist Logik.

      Die Sache war für uns jedoch bitterer Ernst. Wer nach dem Appell in den Folgetagen und Wochen noch in Nietenhosen angetroffen wurde, bekam erst einmal einen Verweis. Dann, als möglicher Wiederholungstäter,