Das Sprechen der Wände. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783981837858
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lenkt. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Sagte Marx. Murks! Wessen Notwendigkeit? Die des Staates? Des Individuums?

      Hoppla! Was für ein Individuum?

      Die immer gleichen Fragen hämmern auf mich ein. Stupide. Stunde um Stunde. Das ist Methode. Der Januartag ist grau, bleibt grau. Düster. Der Baum schaut mich an, reglos.

      »Isleib, zum letzten Mal: Wann haben Sie Mortz den Wagen geborgt? Sagen Sie die Wahrheit! Wir wissen sowieso alles. Also Tag, Stunde, Monat. Isleib!« – Das „Herr“ ist im Verlaufe des endlosen Verhörs längst von ihrer Höflichkeitsliste gestrichen. »Seien Sie vernünftig. So, wie Sie sich verhalten, verschlechtern Sie nur Ihre Lage!«

      Träume ich oder ist das Wirklichkeit? Ich kann das alles noch nicht glauben, habe irgendwie das Gefühl, ich habe mich in das falsche Kino begeben. Horrorfilme stehen nicht auf meinem Programm.

      Der Mensch landet auf dem Mond. Der Mensch baut Computer, Atomkraftwerke und Automaten. Der Mensch verpflanzt Herzen, überträgt Fernsehsendungen, direkt aus Japan. Per Satellit. Der Mensch sucht nach Leben, nach Radioquellen im All.

      Der Mensch sperrt Menschen ein. Weil sie von Halle nach Hamburg wollen. Wahnsinnige Wirklichkeit. 1974. Mitten in Europa. Im einstigen Deutschland.

      »Ich will einen Anwalt haben. Ohne Anwalt sage ich nichts. Ich bin mir keiner strafbaren Handlung bewusst!«

      Gut habe ich das gesagt! Wird die mächtig beeindrucken. Das mache ich nun auch schon seit Stunden. Anwalt sprechen! Als ob es das gäbe.

      Ja, da gibt es einen. Nennt sich Rechtsanwalt. Ist aber wohl eher Linksanwalt. Professor Dr. Kaull, Berlin. Der schrieb mal ein Buch über Kriminalfälle in der Weimarer Republik. Ganz amüsant! Kaull bemängelt darin, dass es in der Weimarer Republik vorgekommen sein soll, dass ein Beschuldigter erst nach mehreren Stunden, gar Tagen, einen Anwalt seiner Wahl sprechen durfte. Sauerei, elende! Scheiß bürgerliche Demokratie, vergammelte Weimarer!

      Wenn der Staatssicherheitsdienst seine Ermittlungen abgeschlossen hat, kann ich mir einen Anwalt nehmen. Wen, das ist ziemlich egal. Denn: Anwalt wird nur, wer sich für den Arbeiter-und-Bauern-Staat gebührend engagiert. Er vertritt schließlich sozialistisches Recht. Nicht irgendein Recht, menschliches Recht, nein, sozialistisches. Nun ja, wenn es sich bei mir um eine gute, positive sozialistische Menschenpersönlichkeit handeln würde, die sich hat verleiten lassen, die sich auf ihrem Weg zum wahren Sozialismus ein einziges, kleines Mal hat verführen lassen, dann könnte man es ja noch einmal versuchen. Mit Genossen der Partei versuchen, ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen. Aber so? Einen gefährlichen Gegner „unserer Republik“?

      Meine Antworten kommen automatisch. Sagen nichts aus. Gar nichts. Meine Gedanken sind woanders. Haben sich dem Verhör längst entzogen. Sie analysieren das politische Verhalten des Staates, seine Statthalter, mir in Form der drei Offiziere des MfS gegenübersitzend. Auf monotone Fragen, monotone Antworten.

      Was schreiben sie nur dauernd in ihre weißen Blöcke? Ich sage doch gar nichts. Sie wollen damit verunsichern. Noch weiß ich das nicht. Methode. Einer rennt ständig geschäftig aus dem Zimmer, die Tür bleibt dabei halb offen; man hört Flüstern auf dem Flur. Dann kommt er wieder hastig in den Raum gerannt, geht zu den anderen, tuschelt ihnen etwas ins Ohr. Dann schreiben sie wieder. Alle drei. Taktik. Doch ich durchschaue sie bald …

      Trotzdem nervt es. Das wissen sie. Ich bin ohnehin geschwächt, denn die Medikamentenvergiftung, von einer läppischen, falsch ausgeführten Zahnbehandlung herrührend, habe ich noch nicht überstanden. Vielleicht hatten sie ja dabei ja auch ihre Finger im Spiel. Wer weiß. Naivität auf meiner Seite. Sie wissen von meiner Schwäche und das freut sie. Auf ihren Gesichtern ist es deutlich abzulesen.

      »Was wusste Ihre Frau davon? War sie bei der Übergabe des Autos dabei?«

      Was heißt hier „Übergabe“! Ein Kollege leiht sich für ein paar Stunden ein Auto. Na und? Doch nun ist Karin im Spiel. Dann kann ich davon ausgehen, dass sie jetzt nicht Kinder zu sozialistischen Menschenpersönlichkeiten erzieht, sondern auch an diesem Ort irgendwo in einem der nüchternen und kalten Räume verhört wird. Aber ich möchte mir ein kleines Fünkchen Hoffnung bewahren. Auf dass sie es so machen wie in der allmächtigen Sowjetunion. Da holt man meist nur die Männer, lässt die Frauen zu Hause. Nein: Die Deutschen sind gründlicher. In allem viel gründlicher.

      »Was ist mit meiner Frau? Warum lassen Sie sie nicht aus dem Spiel?«

      »Die Fragen stellen wir!«, brüllt der Wortführer, der kleine Dicke mit den wässerigen Augen und eine rötliche Ader durchzieht quer seine flache Stirn und schwillt merklich an.

      »Isleib, Sie wollten doch mit ihr abhauen! Wie der Krug!«

      Die ersten Worte des jungen Schnösels mit dem fahrigen Blick und den stoppeligen Haaren. Das war eine Riesendummheit. Dem Dicken steht es förmlich ins Gesicht geschrieben, wie sehr er sich über den falschen Fahrplan seines jüngeren Kollegen ärgert. Soweit war man doch noch gar nicht. Ach wie schrecklich! Wir wollten die kapitalistisch denkende Drecksau doch erst aufweichen, fertigmachen.

      Nun ist die Katze aus dem Sack.

      Sie wollen mir „Republikflucht“ anhängen.

      Was Dümmeres konnte ihnen nicht einfallen. Glauben die im Ernst, dass ich mich in meiner derzeitigen privaten Situation auf solche Sache einlassen würde?

      Aber sie können anscheinend nur in diesen Kategorien denken. Für sie will jeder, der gegen ihren Staat ist, auch automatisch abhauen. Da lassen sie sich auf gar keine Diskussionen ein. Du bist gegen uns, also willst du auch weg. Das ist ihre Logik. Basta. Und deshalb haben wir die Mauer gebaut. Ach nein – die Kapitalisten wollten uns ausbeuten. Das konnten „wir“ nicht zulassen. Ich bringe da etwas durcheinander.

      Ihr Angstsyndrom. Und ich kann sie verstehen.

      Der kleine Dicke merkt, dass ich durch seine Frage Oberwasser bekomme. Ich sitze aufrechter auf meinem Hocker, die eingefallenen Schultern haben sich gehoben. Doch mein Selbstbewusstsein will er gar nicht erst aufkommen lassen und sagt mit seiner fiesen, mich immer mehr anekelnden, hellen, dünnen Stimme:

      »Ihre Freundin, Herr Isleib, die Lena – ist sie doch, nicht? –, die können wir gleich mit dazu holen. Sie sehen ganz so aus, als ob Sie das möchten. Wir können das! Also sagen Sie uns endlich die Wahrheit. Machen Sie ihrem Herzen Luft. Ich sehe doch, wie Sie kaum noch an sich halten können. Oder deute ich das falsch und Sie wollen nur unter unserer Aufsicht einen flotten Dreier machen, Sie Perversling? Das können wir auch organisieren!«

      Diese Schweine. Ihre Drohung ist ernst. Ich weiß, dass sie auch Lena hierher zerren können. Unsagbare Schmerzen durchdringen meine Brust. Sie müssen sehen, wie mein Herz schlägt. Genügt ihnen denn nicht meine Frau? Müssen sie mich zusätzlich noch damit quälen? Reißt mir einen Arm aus, schneidet mir ein Bein ab. Schlagt mich! Um alles in der Welt: Lasst Lena aus dem Spiel.

      Da ist er. Der abgeklärte Schmerz einer langen Partnerschaft, Ehe genannt, gegen den unbeschreiblichen Schmerz einer blutjungen, frisch erblühenden Liebe.

      Was zählt mehr?

      Wir sind nun schon zwei Tage in Berlin. Wir geben Konzerte. Die Band ist gut drauf, gelöste Stimmung wie lange nicht mehr. Ein Gefühl von Ferien umgibt uns; dass macht die Sonne und das junge Frühlingsgrün. Ich telegrafiere Lena: »Bitte komm! Ich habe Sehnsucht.«

      Ihre strahlenden Kulleraugen leuchten mir entgegen. Sie lacht mit uns. Irgendwie ist es diesmal anders. Irgendwie haben wir in diesen Tagen das Gefühl, das uns nichts und niemand mehr trennen kann. Wir schweigen und schmieden in unseren Gedanken Pläne. Liebe heißt das Wundermittel für unsere Seelen. Was zählen in glückseligen Momenten die vielen schlechten Menschen, die uns von Zeit zu Zeit umgeben. Was zählen da Politik, Stress, die Angst um die Zukunft. Selbst die so nahe und immer und überall in Berlin gegenwärtige Mauer wird zur bloßen Wand. Es gibt uns. Punkt. Wir haben Freunde. Punkt. Wir genießen den Moment. Wir lachen mit unseren Freunden, sind glücklich. Wir sitzen auf alten Parkbänken, liegen auf frischen Wiesen, atmen den Duft wunderschöner Blumen ein, lästern uns die Zungen wund, verarschen vorbeikommende