Das Sprechen der Wände. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783981837858
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Nie eine Chance auf ein Studium, keine Karriere. Immer vorausgesetzt, man wurde ganz generell für würdig befunden, ein Studium aufnehmen zu dürfen. Das war im Normalfall ausschließlich den Kindern der Arbeiter- und Bauernklasse vorbehalten. Nicht den Bürgerlichen. Kinder von Ärzten, Ingenieuren, Physikern mussten doppelt linientreu sein, betteln, sich prostituieren, damit sie auf die höhere Schule gehen durften. Schizophren. Was also tun? Riskieren, gefeuert zu werden, oder klein beigeben, auf die geliebten Beinkleider, das damals unglaublich aussagekräftige Symbol der Freiheit, verzichten?

      Mir fiel etwas Besseres ein. Ich setzte ein Schreiben an das Zentralkomitee der SED auf. Darin erklärte ich den Obergenossen kurz und knapp den Beschluss des Direktors, dass wir keine Nietenhosen tragen dürfen, was ich nicht verstehen würde, da sie für mich das Symbol der Solidarität mit der unterdrückten, kapitalistischen Arbeiterklasse seien, da es ja ihre historisch angestammten Arbeitshosen sind. Und wir Schüler, ich spreche da auch für viele meiner Mitschüler, wollen damit unsere Solidarität für die geknechteten Arbeiter, speziell in Westdeutschland, zum Ausdruck bringen.

      Das höfliche und sehr freundliche Schreiben ließ ich von einigen mutigen Mitschülern und auch Ahnungslosen unterschreiben, schickte es frohgemut an das ZK und einen Durchschlag an die Schulleitung.

      Schon am nächsten Morgen warteten die Genossen der Kriminalpolizei auf mich, als ich die Schule betrat. Ich wurde zum Direktor beordert, zwei Herren in grauen, glänzenden Plastikanzügen flankierten ihn links und rechts und man klärte, ob ich der Verfasser sei, und scharrte, im übertragenen Sinne, unruhig mit den Hufen. Denn der Brief war, wie ich bestätigte, bereits an das ZK in Ostberlin unterwegs und nicht mehr aufzuhalten.

      Es war den Dreien anzusehen, dass sie nicht wussten, wie man sich mir gegenüber verhalten solle. Denn wer weiß, wie die da oben entscheiden würden? War der Direktor mit seiner Maßnahme zu weit vorgeprescht, weil er sich bei den Genossen im Bezirk lieb Kind machen wollte? Würde man „da oben“ vielleicht anders entscheiden, denn schließlich war die Arbeiterklasse im Spiel? Oder hätte er, der Direktor, das Absenden des Briefes verhindern sollen, müssen? Ist seine eigene Karriere damit zu Ende?

      Egal.

      Die Herren in den glänzenden Grauen verschwanden wieder. Sie hatten ihre sozialistische Pflicht ordnungsgemäß erfüllt. Der Verfasser des Schreibens war nachhaltig identifiziert. Alles andere würde man im ZK entscheiden. Die Arbeiter-und-Bauern-Macht war mal wieder Herr der Lage und der Genosse Schuldirektor hatte sich richtig verhalten, indem er sofort und unverzüglich nach Kenntnis des eigenartigen Schreibens die Organe eingeschaltet hatte.

      Antwort bekamen wir nie. Das ZK beliebte zu schweigen. Dafür sprach unser Direktor. Zwei Wochen nach dem Vorfall. Man wolle mein unverschämtes Verhalten vergessen, aber die Hosen müsste ich nun wirklich zu Hause lassen. Nur so hätte ich noch eine kleine Chance, mein Abitur zu machen und das wolle ich ja sicher.

      Ein Zwitterergebnis, wie ich damals dachte, dass ihre Unsicherheit zeigte. All die Zusammenhänge, die sich dann Anfang der Siebziger daraus ergeben sollten, begriff ich, 1958, allerdings überhaupt nicht. Der ach so unwichtige und kleine Protest gegen die Macht war ein gefühlsmäßiges Aufbäumen gewesen. Nicht mehr und nicht weniger.

      Was ich schon gar nicht wissen konnte: Es war der Beginn meiner Akte beim Staatssicherheitsdienst. Von diesem Zeitpunkt an hatte man so gut wie jeden Schritt des Isleib in Protokollen festgehalten.

      Dreißig Stunden sitze ich nun schon in dem düsteren Raum; das erste Verhör ist noch immer nicht beendet. Oberflächlich wandern die drei Verhörer durch mein Leben. Streifen dies und das, erinnern mich an längst Vergessenes, Unwichtiges, für sie Wichtiges. Das wird sich im Laufe der Monate noch häufig wiederholen. Im Augenblick macht es mich nervös, denn ich ahne noch nicht, wonach sie suchen, worauf sie eigentlich hinauswollen. Was suchen sie? Was haben sie gegen mich in der Hand? Fakten können oder wollen sie nicht vorlegen. Aber im Augenblick habe ich keine Kraft mehr, all das zu analysieren, was sie mir skizzenhaft an den Kopf werfen. Wie in Trance gebe ich stereotype, nichtssagende Antworten, aber es könnte auch sein, dass ich den einen oder anderen ihrer Vorwürfe indirekt bestätige. Mich damit belaste. In ihren Augen. In ihrer kranken Vorstellung von Recht.

      Mich streift der wenig einfallsreiche Witz, was denn DDR heiße: Der Dumme Rest. Darüber kann ich nicht mal mehr lächeln, so ausgepowert bin ich. Ich habe nur noch den einen Wunsch: Ich möchte schlafen. Ruhe haben. Der Himmel trübt sich bereits zum zweiten Mal ein; die Stadt lebt, zögerlich, wie immer; ein wenig Verkehrslärm dringt durch die Gitterstäbe, die die großen Fenster des Zimmers bewachen. Oder beschützen sie doch meine Bewacher?

      Sie geben mir eine Mehlsuppe. Und zwei Schnitten mit Quark. Sie wissen, dass ich magenkrank bin. Sie locken mit Humanität.

      Ich muss pinkeln. Dringend. Seit Stunden. Über Telefon ruft der Dicke Uniformen. Es klopft. Zwei Uniformen mit Maschinenpistolen stehen in der Doppeltür, nehmen mich in ihre Mitte und los geht's zum Klo. Da stehen sie nun, links und rechts neben mir, die Maschinenpistolen im Anschlag und starren auf meinen Schwanz. Wie soll der Mensch da pinkeln können! Minuten vergehen, meine Beine zittern, Schweiß bricht aus, aber nichts geht. Kein Tropfen. Sie werden unruhig. Kommen sich verarscht vor. Endlich, die ersten, zaghaften Tröpfchen, eine einzige Quälerei. Wenn ich nur nicht so fertig wäre. Die Krankheit, die mich physisch ausgemergelt hat. Die Ungewissheit. Was ist mit meiner Frau, was mit Lena? Verhör. Scheiße! Reiß dich doch zusammen. Waschlappen. Konntest die paar Schritte laufen, bist nicht zusammengebrochen. Hast jetzt, endlich, gepinkelt, bist erleichtert. Ein schönes Gefühl, so entleert zu sein. Ach, wie ich es genieße.

      Die Uniformen, froh, dass ich sie nicht doch verscheißert habe, bringen mich zurück. Von meinem Triumvirat in der Sechzehn ist nur der kleine Dicke zurückgeblieben. Die anderen scheinen schlafen gegangen zu sein. Ach die Armen, ich könnte sie fast bedauern. Mussten so lange durchhalten. Wie viel Zeit ist seit meiner Ankunft in der Gemüse OHG vergangen? Ich kann es nur schätzen. Es wird langsam wieder heller. Fast 48 Stunden, seit sie mich unsanft im Schlaf störten und mitnahmen. Was für einen aufreibenden Job sie doch für das Vaterland erledigen! Quälen sich mit einem matten Musiker. Mein Mitleid mit ihnen steigert sich ins Unermessliche.

      Der kleine Feiste, dicke Tränensäcke und blauschwarze Ringe unter den Augen, die Zigarette im rechten Mundwinkel, schreibt und schreibt und schreibt. Stundenlang gräbt er seine Stupsnase ins Papier, die Zunge züngelt unaufhörlich, wenn sie nicht durch die Zigaretten, die er sich immer wieder zwischenzeitlich nervös in die Visage schiebt, daran gehindert wird. Hin und wieder blickt er auf, durchbohrt mich mit seinen kleinen Schweinsäugelein, fies und hinterhältig. Macht zeigen wollend. Erbärmlich. Jetzt steht er wortlos auf, kommt mit seinen kurzen, schnellen Trippelschrittchen auf mich zu und gibt mir die Blätter. Ein handgeschriebenes Protokoll. Eine winzig kleine, kaum lesbare Schrift. Eng. So wie seine Gedanken. Stark nach rechts gekippt, große Überlängen nach oben und nach unten; eckig, hart, überheblich und unausgeschrieben, unausgewogen. Unangenehm, unintelligent. Primitiv. Kleinlich. So ungefähr hatte ich sie mir vorgestellt. Ein Spiegelbild seiner Fratze. Der hat was zu verbergen, ist maßlos überheblich, überschätzt sich. Gut für mich.

      Aber: Er hat auch Durchhaltevermögen. Und ist geschult. Von den Schlimmsten der Schlimmen. Wir werden sehen, wer hier wen killt …

      Vieles von dem Gekrakel kann ich beim besten Willen nicht entziffern, muss fragen und fragen. Dann kommt er mit einem überheblichen Grinsen gewichtig angetrippelt und hilft mir. Sein Atem stinkt nach kaltem Rauch, übler Mundgeruch entweicht ihm und lässt mich fast in Ohnmacht fallen. Die Formulierungen sind ungeheuerlich. Worte, die ich nie benutzen würde. Schachtelsätze, die mir immer ein Rätsel bleiben werden. Das soll ich gesagt haben? Und das Pamphlet soll ich unterschreiben? Klar, er ist der Chef im Ring. Ich habe keine guten Karten. Das weiß ich. Aber auch er wird im hierarchischen System des Staatssicherheitsdienstes einen Chef haben. Und der wieder einen. Und so weiter. Bis hin zum anderen, gefühlten Fast-Analphabeten Mielke. Also ist Schweinchen Dick gezwungen, gute Arbeit abzuliefern. Sonst wird er nie befördert, bekommt stets und ständig Ärger. Ist nun mal so. Wie kann ich dem armen Jungen nur behilflich sein?

      Das Protokoll werde ich nie und nimmer akzeptieren und sage voller Zorn: »Ich unterschreibe den Mist nicht. Basta!«