Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990810569
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Philosophie und Rhetorik alsbald hohes Ansehen errang. Von seinen Schriften ist nichts übriggeblieben. Aber wir wissen von Cicero selbst, wie entscheidend er sich von dem Griechen beeinflussen ließ. Wahrscheinlich hat Philon von Larissa den jungen Römer auf die gemeinsam mit dem gleichgestimmten Freund Attikus nach Hellas unternommene Studienreise vorbereitet. In den „Tusculanes” rühmt Cicero Philons erlesenen Stil. Aber auch menschlich wie geistig blieb er dem griechischen Lehrmeister treu. Was wir über ihn als Philosophen wissen, verdanken wir größtenteils Cicero. Obwohl Leiter der Platonischen Akademie, vertrat Philon von Larissa keinen spekulativen Idealismus, sondern eine Haltung „akademischer Skepsis”.

      Eine solche Position ist übrigens gar nicht so unplatonisch, wie es auf den ersten Blick scheinen mag; sie trifft allerdings bei weitem nicht den ganzen Platon. Aber in gewisser Weise ist Platon, der Schöpfer der Ideenlehre, durchaus auch ein Skeptiker. Er mißtraut den Sinnen. Den Augenschein hält er für trügerisch. Von den vergänglichen Dingen, so lehrt er, gibt es kein Wissen (episteme), sondern bloß ein Meinen (doxa). Die Welt des Werdens und Vergehens, mit der wir es im Alltag zu tun haben, rangiert in der Mitte zwischen dem unerkennbaren Nichts und dem wahrhaft Seienden, das sich nur dem zu den göttlichen Ideen erotisch aufschwingenden Weisen enthülle. Diese Ideenlehre ist zwar der eigentliche Platonismus, doch immerhin beruht sie auf dem vorgängigen Zweifel, auf einem grundlegenden Skeptizismus gegenüber der Sinneserfahrung.

      Philon von Larissa, der Lehrer Cottas wie Ciceros, war also Skeptiker, insofern er behauptete, daß dem Menschen durch die Sinneswahrnehmungen keine absolute Erkenntnis zuteil werden könne. Er vertrat jedoch keinen an der Möglichkeit zu wissen völlig verzweifelnden epistemologischen Nihilismus, sondern eben nur einen maßvollen und im praktischen Lebensalltag tauglichen Skeptizismus. Man könne zwar nicht das ganze Wahre erkennen, immerhin aber das mehr oder minder Wahrscheinliche, das verisimile. Durch sorgfältiges und vorurteilsloses Sammeln, Prüfen und Vergleichen der verschiedenen Lehrmeinungen und selbständige undogmatische Forschung sei es möglich, zum Glaubwürdigen (probabile) zu gelangen. Dies ist jene Haltung, die Cicero gemäß war, von der er sich bereits als junger Mann ansprechen ließ und der er zeitlebens treu blieb: ein von doktrinärer Einseitigkeit und sektiererischem Heilsanspruch freier Standort, der zu kritischem Denken ermuntert und es gestattet, sich im einzelnen den verschiedensten Schulen anzuschließen oder sich zumindest von ihnen im Sinne des Ratschlags anregen zu lassen, daß man alles probieren und das Gute behalten solle. Philons Richtung einer moderaten und nach den unterschiedlichsten Seiten offenen Skepsis feierte Cicero als genus philosophandi minime adrogans, als die am wenigsten anmaßende Art zu philosophieren; sie gewähre uns „eine um so größere Freiheit und Unbefangenheit, weil unsere Urteilsmöglichkeit nicht im geringsten eingeschränkt ist und wir durch keinerlei Notwendigkeit genötigt werden, alles, was uns vorgeschrieben und gleichsam anbefohlen ist, zu verteidigen” (De divinatione II, 1; Academici libri II, 8). Wie Philon von Larissa näherte sich auch Cicero in bestimmten Fragen der stoischen, in andern der platonischen, aristotelischen oder — wie im Bericht über Scipios Traum — der pythagoreischen Philosophie und behielt sich dennoch die Freiheit vor, alle zu kritisieren.

      Diese Haltung Philons und Ciceros teilt als dritter im Bunde der am Schluß von „De natura deorum” auftretende Cotta. Er ist gleich Cicero Jurist, Rhetor, hoher Magistrat, musisch aufgeschlossen und in philosophischer Hinsicht ein Vertreter der akademischen Skepsis. Als solcher bemängelt er geistreich und bisweilen äußerst scharfzüngig die Gotteslehren der Epikureer, Stoiker und am Rande auch die theologischen Doktrinen anderer Philosophen. Cotta ist ein urbaner und gebildeter Kopf mit Esprit, ein Weltmann und kultivierter Zweifler, in dem schon eine Prise vorweggenommenen Voltairianertums steckt. Er ist kein apolitischer Schöngeist, sondern ein in Regierung und Verwaltung erprobter Beamter. Er war Prätor, Konsul, prokonsularischer Statthalter in Gallien und tritt übrigens schon in Ciceros Frühwerk „De oratore” als Gesprächsteilnehmer auf.

      Doch eines der hohen Ämter, mit denen Caius Aurelius Cotta betraut war, habe ich vorsätzlich noch nicht genannt. Diese Pointe wollte ich mir für den Schluß aufsparen. Der Skeptiker Cotta, der die Götterlehren der Philosophen witzig zerpflückt, war nicht nur ein arrivierter Politiker, sondern auch Pontifex maximus, der Vorsteher der obersten Sakralbehörde, des seit Sulla aus sechzehn Mitgliedern bestehenden collegium pontificum, und damit der ranghöchste Priester des ganzen Römischen Reiches. Später trugen die Kaiser diesen Titel, bis er im Laufe des fünften nachchristlichen Jahrhunderts, als das alte Heidentum untergegangen war, formell auf den Bischof von Rom überging. Seit Leo dem Großen werden bis auf den heutigen Tag die Päpste ehrenhalber wie der heidnische Oberpriester im alten Rom genannt: Pontifex maximus. Cicero war als Augur seit dem Jahre 53 ebenfalls mit einem hohen Priesteramt bekleidet, da die Auguren für die Auspizien zuständig waren, ohne die keine bedeutende Staatshandlung vorgenommen werden durfte. Doch Caius Aurelius Cotta stand noch über den Auguren. Er verkörperte die höchste religiöse Autorität der Römer. Er war der heidnische Papst der Ewigen Stadt. Ihm unterstanden die sechs vestalischen Jungfrauen, die nur er züchtigen oder töten durfte, sofern sie das heilige Feuer im Tempel der Herdgöttin vernachlässigt oder das Gebot strengster Keuschheit gebrochen hatten. Er vertrat als mit Disziplinargewalt über das ganze Kollegium ausgestatteter Sakralchef, der nicht bloß Erster unter Ebenbürtigen, sondern ranghöchster Vorgesetzter war, die Vollzahl der Pontifices gegenüber dem Senat und Volk von Rom. Als Inhaber der höchstpriesterlichen Würde des Reiches hatte er die genaue Beachtung aller rituellen Vorschriften zu überwachen, gegebenenfalls auftretende Streitfragen gottesdienstlicher Art zu entscheiden, einen ordentlichen Totenkult zu gewährleisten, den Kalender und die gebotenen Feiertage festzulegen, bei Eintreffen schlechter Vorzeichen (prodigia) Entsühnungszeremonien vorzunehmen und überhaupt mit heiliger Pedanterie für die Wahrung der überlieferten Formen in Wort, Handgriff und Gebärde bei Opfern, Gebeten, Gelübden und anderen religiösen Akten zu sorgen. Wer einmal Pontifex war, übte sein Amt lebenslänglich aus, gleichgültig welche staatlichen oder militärischen Würden er sonst noch erlangt hatte.

      Es liegt auf der Hand, daß das collegium pontificum und insbesondere dessen Vorsteher, der Pontifex maximus, kraft der zahlreichen Aufgaben und Befugnisse nicht nur eine religiöse, sondern auch eine politische Macht darstellte. Grundsätzliche Trennung von Politik und Religion war der gesamten Antike bekanntlich völlig fremd. Sie ist erst ein sehr spätes und bis heute keineswegs allgemein anerkanntes, jedenfalls überaus zerbrechliches und immer wieder von beiden Seiten gefährdetes Ergebnis der europäischen Neuzeit. Die Pontifices waren zugleich Hohepriester und oberste Sachverständige für alle Belange des Kults, eingeschlossen Gräber- und Bestattungswesen, Omina und kalendarische Festsetzung der gebotenen Festtage; sie waren in dieser sakralen Eigenschaft wie durch sonstige politische Ämter zugleich auch Staatsdiener und Träger hoher Würden, die gewöhnlich nur von vornehmen und führenden Persönlichkeiten bekleidet werden konnten. Ein Priesteramt wahrzunehmen galt in römischer Sicht keineswegs als Verzicht auf „weltlichen” Erfolg, sondern als wichtige gesellschaftliche Auszeichnung, die sich mit anderen gut vertrug, oder als günstiger Start für eine politische Karriere. Jeder politisch Ehrgeizige mußte unvermeidlich die Religion als politischen Faktor berücksichtigen. Cicero selbst rechtfertigt diese enge Verbindung von Götterkult und Staatsmacht mit dem Hinweis, daß „auf diese Weise die angesehensten Bürger durch gute Verwaltung des Staates die Religion und durch weise Lenkung der Religion den Staat bewahren” (De domo sua 1). Weil es samt den Auguren, Haruspizes und zwei oder drei anderen Priesterschaften zur Zeit Ciceros nur etwa vierzig angesehene Sakralwürden gab, um die mindestens zehnmal soviele ehrgeizige Politiker rivalisierten, war die Konkurrenz groß und die Wartefrist oft sehr lang. Der Andrang war auch deshalb stark, weil die Priesterämter, anders als die im engeren Sinne politischen, lebenslänglich verliehen wurden. Cicero gelang es erst zehn Jahre nach seinem Konsulat, zum Augur gewählt zu werden. Er war stolz darauf, obwohl er als Skeptiker von der heiligen Kunst der Vorzeichendeutung nicht allzuviel hielt. Doch noch renommierter als das sechzehnköpfige Augurenkollegium waren die sechzehn Pontifices, an deren Spitze der Pontifex maximus stand.

      Dies also war Cotta, der uns in Ciceros Dialog über die Götter begegnet und der die dem Autor eigentümliche philosophische Position vertritt: der Hohepriester und oberste Experte in sämtlichen Ritualfragen als Skeptiker, von dem Cicero, der zwischen den philosophischen Fronten