Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990810569
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verkörpert geradezu den normalen, den normativen Staatsmann, der, anders als der Feldherr, die Menschen vorrangig durch Wort, Zuspruch und Überredung lenkt. Der staatsmännische Redner erscheint insofern als Repräsentant des Friedens, der Urbanität, der hohen Kunst gewaltloser Menschenführung.

      Darüber hinaus hat Cicero neben seinen vielfältigen literarischen Auseinandersetzungen mit aktuellen politischen Problemen sich auch als Theoretiker der Politik staatsphilosophisch betätigt. Er gehört mit Platon, Dante, Machiavelli, Fénelon, Hobbes und de Tocqueville zu jenen wegweisenden politischen Denkern, die alle im Bereich der praktischen Politik mehr oder minder erfolglos waren. Desto mehr Glück hatte Cicero auf seinem postumen Weg als Vermittler politischer Weisheit, wie mein 1971 frühverstorbener Freund René Marcic treffend in seinem letzten großen Buch „Geschichte der Rechtsphilosophie” (1971) hervorhebt: „Selten widerfährt einem die Kultur der Menschheit prägenden Kopf so viel Unbill wie Cicero. Er mag den Philosophen und solchen, die sich dafür halten, er mag Juristen und solchen, die sich dafür halten, als ein wenig schöpferischer Geist erscheinen. Gleichviel, Cicero ist ein kräftiger Denker und Formulierer … Ihm fällt die Rolle des weltgeschichtlichen Transformators im Reich der Römer zu, deren Bauarbeit an den okzidentalen Institutionen des geordneten Alltags einfach nicht überschätzt werden kann. Weder politische Theorie noch Rechts- und Staatsphilosophie können Cicero als Brückenbauer missen.”

      „Brückenbauer” oder „Pfadbahner” ist übrigens die Bedeutung ranghöchsten römischen Priestertitels: Pontifex. Darauf werde ich im folgenden noch etwas ausführlicher eingehen.

      Zu Ciceros staatsphilosophischen und politiktheoretischen Schriften gehört, wie bereits angedeutet, der mehrere Bücher umfassende Dialog „De oratore”. Ebenfalls in Gesprächsform sind die beiden im engeren Sinne auf Recht, Staat und Politik bezogenen Abhandlungen abgefaßt: „De re publica” (Vom Gemeinwesen) und „De legibus” (Über die Gesetze).

      Geschrieben in Jahren erzwungener politischer Untätigkeit und uns zum größten Teil erst dank des glücklichen Fundes von Angelo Mai in der Vaticana bekannt, zählt „De re publica” zu den schönsten Darstellungen der Ciceronianischen Gedanken über den Staat. In den ersten drei Teilen entfaltet Cicero, insbesondere auf Lehren Platons und Polybios’, aber auch Aristoteles’ und der Stoa zurückgreifend, die Lehre von den drei Grundformen des Staates: der monarchischen, aristokratischen und demokratischen. Im Kreislauf der Verfassungen entarte jede dieser Formen, bis sie von der nächsten abgelöst werde, die ihrerseits dem Verfall unterworfen sei, bis am Ende der Zyklus wieder von vorne beginne.

      Am dauerhaftesten, widerstandsfähigsten und gerechtesten sei eine ausgewogene gemischte Verfassung, ein regimen mixtum, das monarchische, aristokratische und demokratische Bestandteile enthalte. Als praktische Verwirklichung dieses politischen Ideals sieht Cicero die römische Republik in ihrer Blütezeit an. Im Konsulat sowie in der verfassungsgemäßen, auf Krisenzeiten eingeschränkten und als Staatsnotwehr begriffenen Diktatur kann man das monarchische Element Roms erblicken. Die senatorische Nobilität stellt den aristokratischen Bestandteil des Staates dar, während Komitien und Volkstribune den demokratischen zur Geltung bringen.

      Mit diesen im Lichte römischer Staatspraxis gedeuteten und konkretisierten Gedanken griechischer Philosophie hat Cicero durch mehr als zwei Jahrtausende das von Europa ausgehende Politikverständnis maßgebend geprägt. Thomas von Aquin, Montesquieu und Edmund Burke fußen ebenso auf Cicero wie die Väter der amerikanischen Verfassung. Das regimen mixtum als Ausdruck der Gerechtigkeit, der iustitia, gehört zu den bleibenden Leitbildern abendländischer Staatsweisheit. Gerechtigkeit aber bestimmt Cicero als consensus iuris, als Einverständnis mit dem Recht. Einverständnis mit dem Recht bedeutet, daß jeder Bürger bereit ist, seine Ansprüche gewaltlos durchzusetzen, die Ansprüche der andern anzuerkennen und mit den eigenen auszugleichen. Dies gilt auch für die Staatsmacht als großes Ganzes. Sie kann nur dann gerecht sein, wenn sie die Gegensätze und Spannungen aufzuheben und zu vermitteln vermag. Cicero spricht auch von utilitatis communio, was kaum übersetzbar und eben deshalb ganz römisch gedacht, vielleicht am ehesten mit „Allgemeinwohl” wiederzugeben ist.

      Bemerkenswert ist der ethisch gefaßte Aristokratiebegriff, das Idealbild des optimus civis, des wahren Optimaten oder Staatsmannes, der nicht kraft Abstammung und Reichtums, sondern durch seine Sorge für das Wohlergehen der Bürger, für die Erhaltung der Grundlagen potenter Staatlichkeit zur Elite gehört. Er ist Edelmann (princeps) und Reichsverweser (procurator rei publicae), der mit seiner auctoritas das Gemeinwesen gestaltet oder in kritischen Lagen wiederherstellt, um nach Erfüllung dieser Aufgabe wieder ins zweite Glied zu treten und Bürger unter Bürgern zu sein. Bereits in seiner Rede für Sestius hatte Cicero dieses staatsethisch veredelte Aristokratie- oder Optimatenverständnis entwickelt, das auch die letzten drei Bücher von „De re publica” prägt:

      „Wer sind die Besten? Fragt man nach ihrer Zahl: Es sind unzählige, sonst könnten wir uns ja auch gar nicht halten. Es sind die Häupter des Staatsrates, es sind deren Anhänger, es sind Angehörige der oberen Stände, denen der Zugang zum Senat offensteht, es sind römische Bürger aus den Landstädten (wie Cicero selbst, der aus dem volskischen Landstädtchen Arpinum am Flusse Liris stammt. G.-K. K.) und Bauern, es sind Geschäftsleute, ja sogar Freigelassene (das heißt frühere Sklaven. G.-K. K.) sind Optimaten … Optimaten sind alle, die weder Verbrecher noch von Haus aus schlecht oder durch zerrüttete Verhältnisse behindert sind. Also diejenigen sind es, die du eine Sippschaft nennst: die Unbescholtenen, die Vernünftigen, die in geordneten Verhältnissen Lebenden. Diejenigen, die deren Gesinnung, Interessen und Grundsätze in der Politik verfechten, gelten als die Schutzherren der Optimaten, als die bedeutendsten Optimaten, die angesehensten Bürger und die ersten Männer im Staat. Welches ist nun das Ziel dieser Staatslenker, das sie im Auge haben und nach dem sie ihren Kurs ausrichten müssen? Das, was das Beste und Wünschenswerte für alle vernünftigen, anständigen und wohlgestellten Bürger ist: Ruhe bei Wahrung des Ansehens. Wer dieses Ziel im Auge hat, gilt als Optimat; wer es verwirklicht, als Mann höchsten Ranges und als Retter des Staates. Das Streben nach Ansehen darf ja einerseits nicht dazu verleiten, die Ruhe zu gefährden; andererseits darf man sich aber auch keiner Ruhe hingeben, die mit der Wahrung des Ansehens unvereinbar ist. Grundlagen und Mittel dieser Vereinigung von Ruhe und Ehre, die von den führenden Politikern geschützt und sogar unter Lebensgefahr verteidigt werden müssen, sind diese: die religiösen Einrichtungen, die Auspizien, die Machtbefugnis der Beamten, die Autorität des Senats, Gesetz und Herkommen, Rechtsprechung und Gesetzgebung, Treu und Glauben, Provinzen und Bundesgenossen, das Ansehen der Militärgewalt, Kriegs- und Finanzwesen. Als Schützer und Verteidiger von Institutionen dieser Bedeutung aufzutreten erfordert in hohem Maße Mut, außergewöhnliche Fähigkeiten und große Beharrlichkeit …”

      Nachdem Cicero in den ersten drei Büchern von „De re publica” das Leitbild einer gemischten Verfassung dargelegt hat, widmet er die restlichen drei dem dieser wohlgeordneten Staatsform entsprechenden Menschen, der ihn tragenden sittlichen Ordnung der Gemeinschaft, der Gestalt des Staatsmannes und seinem Handeln in Zeiten der Gefahr.

      Den weihevollen Abschluß bildet die in kosmisch-göttliche Dimensionen sich aufschwingende Traumerzählung des jüngeren Scipio, das visionäre Somnium Scipionis. Dieser Bericht ist die schönste Darstellung des pythagoreischen Gedankens von der Harmonie der Sphären, eines von astraler Musik durchtönten Weltalls. Sie hat schon im Altertum die Leser fasziniert, wurde immer wieder ausgedeutet, so von Macrobius und Boëthius, und hat über die Renaissance hinaus bis weit in die Neuzeit stets aufs neue sowohl durch ihren dichterischen Schwung als auch ihren religiösen Tiefsinn dafür empfängliche Menschen in den Bann geschlagen. Scipio erzählt am letzten Tag des dreitägigen Symposions von einem Traum, der ihm vor vielen Jahren zuteil wurde, als er im Hause des befreundeten Königs Massinissa von Numidien übernachtete. In diesem Traum erschien ihm sein Ahnherr Scipio Africanus der Ältere, der Sieger über Hannibal und Großvater der Gracchen. In himmlische Höhen entrückt, betrachtet er gemeinsam mit dem berühmten Vorfahren die Milchstraße und noch viele andere nie zuvor gesehene Sterne; die Erde aber erscheint ihm winzig klein:

      „Als ich sie weiter anschaute, sagte Africanus: ‚Ich bitte dich, wie lange wird dein Geist am Boden haften bleiben? Siehst du nicht,