Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990810569
Скачать книгу
Terminologie, in der seit zweitausend Jahren europäische Philosophen die Probleme formulieren, überhaupt erst geschaffen.

      Cicero konnte vollendet griechisch, er hatte in Athen und auf Rhodos griechische Philosophie eifrig studiert und sich eine unvergleichliche Belesenheit angeeignet. Er übersetzte Platon, Aratos und andere griechische Autoren ins Lateinische, schrieb einen Teil seiner Briefe auf griechisch und schmückte auch seine lateinischen Sendschreiben immer wieder mit griechischen Zitaten. Sich an Leser wendend, die hellenische Geistigkeit und Freude an sublimem Denken schätzen, war ihm die Sprache Sokrates’ nicht minder geläufig als einem gebildeten Deutschen zur Zeit der Aufklärung die Sprache Voltaires. Viele Gedanken griechischer Philosophie kennen wir nur dank der Ciceronianischen Übersetzertätigkeit, weil die originalen Texte in Verlorenheit geraten sind. Der Römer, der bei den Griechen in die Schule ging, wurde zur einzigen Quelle, durch die wir heute über manche philosophische Leistungen des hellenischen Geistes einigermaßen Bescheid wissen. Daß das Lateinische, ursprünglich eine überaus rustikale Sprache, später zur lingua franca europäischer Theologie, Philosophie und Wissenschaft wurde, in der ein Thomas von Aquin, Meister Eckhart, Nikolaus Cusanus, Descartes, Grotius, Spinoza, Pufendorf, Leibniz und zum Teil auch noch Kant ihre Werke schrieben, das verdanken wir Cicero.

      Es ist des öfteren hervorgehoben worden, daß Cicero kein originaler Philosoph gewesen sei. Er gehört nicht zu den großen Systemschöpfern wie Aristoteles, Spinoza oder Hegel. Der zuletzt genannte deutsche Denker wirft dem römischen sogar vor, daß „es ihm überhaupt an philosophischem Geiste fehlte”. Cicero, so Hegel, habe oft schlechte Einfälle; es mangle ihm an spekulativem Tiefsinn; seine Verständigkeit sei durch „Plattheit” gekennzeichnet. Mommsen unterstellt ihm das eitle Bestreben, nicht nur ein lateinischer Demosthenes, sondern mit seinen popularisierenden Bearbeitungen griechischer philosophischer Werke auch ein lateinischer Platon zu werden. Cicero sei ein eklektischer Vielschreiber, ein grundsatzloser Vermittler und unschöpferischer Kompilator, ja Plagiator gewesen. Das vorige Jahrhundert, das nicht nur ein Zeitalter der Naturwissenschaft, sondern auch der kritischen Philologie war, hat mit viel Spürsinn die griechischen Vorbilder Ciceros aufgedeckt und ihm vorgeworfen, daß er die Quelle oft nicht einmal selbst, sondern nur vermittels irgenwelcher Kompendien, Auszüge oder Blütenlesen studiert und manchmal schlechterdings mißverstanden habe. Cicero sei im Grunde kein Philosoph, sondern günstigstenfalls ein redseliger Enzyklopädist der Philosophie, ein nicht immer zuverlässiger Reiseführer zu den Systemen griechischer Metaphysik. Es ist ja auch kein Zufall, daß „Cicerone” zum Inbegriff des geschwätzigen Fremdenführers wurde.

      Es läßt sich nicht leugnen, daß alle diese Einwände zumindest ein Gran Wahrheit enthalten. Gewiß bedauern wir manchmal, daß Cicero nicht immer seine Quellen genau angegeben oder wenigstens exakt übersetzt hat. Aber ist es nicht etwas schnöde, ihm deshalb pedantisch am Zeuge zu flicken? Wie hätte Cicero vorhersehen können, daß dereinst viele philosophische Werke der von ihm bewunderten Griechen untergehen, seine eigenen unsystematischen Bearbeitungen hingegen weitestgehend erhalten bleiben würden? Ist er uns nicht durch eben diesen überlieferungsgeschichtlichen Unfall desto kostbarer geworden?

      Vor allem aber gilt es sich zu vergegenwärtigen, daß Cicero in erster Linie Politiker war, der sich überwiegend nur in Zeiten erzwungener Muße oder zum eigenen Troste mit Philosophie befaßte. Er leitete keine Akademie, war nicht Haupt einer philosophischen Sekte, dozierte nie als Professor. Er wollte als Staatsmann ruhmvoll im Gedächtnis der Nachwelt weiterleben, nicht als eigenständiger Philosoph. Unmißverständlich huldigte er der echt römischen Auffassung, daß der Vorrang der vita activa, nicht der vita contemplativa zukomme. Die Philosophie war ihm zwar mehr als ein bloßes Steckenpferd, er schätzte sie als ernstzunehmende Freizeitbeschäftigung eines geplagten Mannes; aber sie durfte ihn nicht von politischer Tätigkeit abhalten. Sie war ihm lieb als Entscheidungshilfe, Tröstung, Kunst der Beweisführung und Disziplin; aber er hätte es für aberwitzig und wohl auch würdelos gehalten, hauptsächlich zu philosophieren oder gar von der Philosophie leben zu wollen.

      Cicero steht vor uns als Prototyp eines philosophierenden Politikers, nicht aber eines allein der Theorie sein Leben weihenden Philosophen. Er ist ein Gentleman-Philosoph, der mit urbaner Großzügigkeit alle wichtigen Ansichten prüfend durchmustert, um sich bald von dieser, bald von jener wetteifernden Schule das, was ihm zutreffend erscheint, herauszuholen und wo möglich mit dem, was der gesunde Menschenverstand bereits weiß, in Übereinstimmung zu bringen. Ciceros Verfahren kann man insofern als republikanisch und liberal kennzeichnen. Er überträgt die Grundsätze staatsbürgerlicher Unterredung und sozialen Kompromisses auf die philosophische Wahrheitssuche. Wie er in der Politik die Monarchie als Herrschaft eines Einzigen verwarf, so in der Philosophie die alleinseligmachende Unterwerfung unter eine einzige Doktrin. Das Glück des Weisen bestand für ihn im Suchen der Wahrheit, nicht in der Behauptung, sie bereits zu besitzen. Cicero ist jeder Fanatismus fremd. Er gehört nicht zu den Eiferern, die auf ein absolut verbindliches System eingeschworen sind. Er ist kein Ideologe und Dogmatiker. Starres Festhalten an Lehrmeinungen erschien ihm nicht nur als Anmaßung (arrogantia), sondern vor allem als Verletzung der einem Gentleman geziemenden verecundia. Das Wort verecundia ist im Deutschen schwer wiederzugeben. Es bedeutet Zurückhaltung, Scheu, Achtung, Schamgefühl. Der Dogmatiker, so meint Cicero, frevelt gegen das Gebot schicklicher Zurückhaltung und Achtung vor der in anderen Ansichten enthaltenen Wahrheit. Er ist intellektuell schamlos, hat keinen Sinn für vornehme Dezenz, spreizt sich hochmütig auf, ermangelt des im kultivierten Umgang mit andern Menschen notwendigen Taktgefühls. Der Dogmatiker ist zuinnerst unhöflich, das philosophische Gegenstück zum staatlichen Tyrannen. Der Dogmatiker ist, selbst wenn er politisiert, überhaupt kein politischer Mensch im anspruchsvollen Sinne des Wortes. Er ist unpolitisch, ja antipolitisch, wenn man daran festhält, daß Politik wesensmäßig Unterredung, Ausgleich, Vermittlung bedeute.

      Als undogmatischer Gentleman-Philosoph prüft Cicero die verschiedenen Richtungen, läßt sie oft überzeugend in Gestalt eines Dialogteilnehmers zu Wort kommen und entnimmt den einzelnen Schulen das ihm Gemäße. Er ist Platoniker, Aristoteliker, Stoiker, vor allem aber ein maßvoller Skeptiker. Als eklektisch, das heißt auswählend vorgehender Philosoph neigt er beispielsweise einerseits zu einem entschiedenen Vorsehungsglauben, andererseits setzt er sich aber ebenso bestimmt für die Willensfreiheit ein. Er entrollt in dem bereits erwähnten staatstheoretischen Werk im Anschluß vor allem an Polybios ein packendes Bild des aufsteigenden Römerreiches bis zur Epoche der Eroberung des hellenistischen Ostens und erörtert das stufenweis allmähliche Werden der besten Verfassung an einem Beispiel der Geschichte (und nicht anhand eines Mythos), ohne jedoch diesen Aufstieg als absolute historische Notwendigkeit oder Zielstrebigkeit zu deuten. Er betont den Primat politischer Praxis und tröstet sich im Somnium Scipionis mit dem Gedanken, daß von den erdentrückten Sphären aus betrachtet alle Welthandel äußerst belanglos erscheinen. Er preist die erhabene Schönheit des selig kreisenden Kosmos und versichert gleichwohl unumwunden, daß es auf Erden darauf ankomme, staatsmännisch tätig zu sein, um dereinst die Entzückungen des gestirnten Himmels genießen zu dürfen. Seine grundsätzliche Skepsis hindert ihn nicht daran, gelegentlich auch gegenüber kühl abwägendem, alles relativierendem Zweifel skeptisch zu sein und die Philosophie, wie im Schlußteil der „Tuskulanischen Gespräche”, geradezu als erhabene Göttin psalmodierend zu lobpreisen und ihr Vollmachten zu erteilen, die er ihr sonst vorenthält:

      „Philosophie, du Führerin des Lebens, Erforscherin der Tugend, Vertreiberin des Lasters! Was wären wir, was wäre das menschliche Leben überhaupt ohne dich! Du hast Städte hervorgebracht, du hast die zerstreut lebenden Menschen in Lebensgemeinschaften zusammengerufen, sie zuerst durch Ansiedlung, dann durch Ehe, endlich durch die gemeinsame Schrift und Sprache verbunden. Du warst die Erfinderin der Gesetze, die Lehrerin von Sitte und Ordnung. Zu dir nehmen wir unsere Zuflucht, von dir erflehen wir Hilfe, dir vertrauen wir uns an, wie früher schon in so vielem, aber jetzt ganz und gar. Ein einziger Tag, in rechter Weise nach deinen Geboten verbracht, ist einer ganzen Ewigkeit voller Missetaten vorzuziehen. Wessen Hilfe sollten wir also eher in Anspruch nehmen als die deine, die du uns ein Leben in Ruhe geschenkt und die Todesfurcht genommen hast?”

      III.

      Typisch für Ciceros schwer zu bestimmende, weil ein eigenes geschlossenes