… qui autem omna, quae ad cultum deorum pertinerent, diligenter retractarent et tamquam relegerent, sunt dicti religiosi ex relegendo …
„… diejenigen aber, die alles, was mit dem Kult der Götter zu tun hatte, mit Sorgfalt ausübten und gleichsam immer wieder erwogen (relegerent), wurden von diesem Worte (ex relegendo) als religiosi bezeichnet …”
Religion ist für den Römer eine Haltung der Achtsamkeit, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit gegenüber allem, was mit dem Götterkult zusammenhängt. Sie ist weder Glaube noch Ekstase, sondern die gewissenhafte, treue und genaue, auch den Vorwurf formalistischer Pedanterie nicht im geringsten scheuende, ihn vielmehr als hohes Lob auffassende Beobachtung der überlieferten Riten. Religion nach römischer Art ist Hingabe an die ehrwürdigen, feststehenden und peinlich einzuhaltenden Vollzugsformen der Götterverehrung. Sie hat mit Leidenschaft im affektiven Sinn wenig zu tun. Man kann sie eher als ausgeprägte Vorliebe für alteingebürgerte Umgangsformen mit der außermenschlichen Wirklichkeit charakterisieren. Sie ist sozusagen eine trocken-nüchterne Passion für Etikette in allen göttlichen Belangen, seien es Worte, Gebärden oder Handlungen, Gebete, Zeremonien oder Opfer, Beschwörungen, Auspizien oder Entsühnungen. Denken kann man von den Göttern, was einem beliebt. Es ist nicht einmal entscheidend, ob man an ihre Realität „glaubt”. Nichtig ist geradezu das Unterfangen, sie argumentativ „beweisen” zu wollen. Epikureer, Stoiker, Platoniker und Aristoteliker mögen alle auf ihre Fasson selig werden. Kein Pontifex maximus hindert sie daran. Sie können die Götter deuten, wie ihnen beliebt. Sie dürfen ihr Vorhandensein bezweifeln oder für unbeweisbar halten. Götter und Priester Roms kümmern sich nicht darum, ob und wie über die Götter spekuliert oder meditiert wird. Entscheidend ist einzig der korrekte Vollzug der altehrwürdigen Riten und die unveränderte Weitergabe der von den Vorfahren aus grauer Frühzeit übernommenen Kultformen an die Nachwelt. Die Philosophen haben die Götter nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, festgelegte gottesdienstliche Bräuche zu bewahren. In theologischen Fragen ist Laxismus gestattet; aber in rituellen Angelegenheiten wird jede Schlamperei bestraft. Theologen und Religionsphilosophen sind nur imstande, mehr oder minder geistreiche Theorien über die Götter vorzulegen. Aber nur Götter und von ihnen bevorzugte seltene Menschen, die deshalb schon Halbgötter sind, vermögen tradierfähige und durch Jahrtausende getreulich gepflegte Riten einzusetzen.
Numa Pompilius, der sagenhafte zweite römische König, wie ihn Cicero (De re publica, II, 23-30), Livius (I, 18-21) und Plutarch so eindrucksvoll schildern, war ein solcher Halbgott. Auf ihn gehen die meisten Priestertümer, Feste und Kulte zurück. Kein Intellektueller wäre fähig, derlei zu vollbringen. Deshalb gilt das unerbittliche Gesetz: Die theologische Diskussion ist frei; die Liturgie ist sakrosankt. Philosophie ist permanente Revolution; Kult ist permanente Tradition. Wer einen Ritus eigenmächtig ändert, der begeht einen unsühnbaren Frevel, ja einen Gottesmord. Wer einen Gott bezweifelt oder ihm theoretisch etwas am Zeuge flickt, mag das ungeniert tun. Es ist im Grunde nur ein kindliches Spiel zum Ruhme der Götter.
Dies war die ingeniöse römische Lösung des religiösen Problems. Deshalb die herzergreifende Duldsamkeit und Liberalität der doch sehr unsentimentalen und hartgesottenen Römer in allen Glaubensfragen. Deshalb die Beibehaltung magischer Formeln und Begehungen archaischen Ursprungs auch noch in einer vom Geist des Rationalismus durchwehten Spätzeit. Deshalb konnte ein leichtfüßiger Spötter wie Ovid den römischen Kalender in seinen „Fasti” mit ironischer Distanz und bisweilen derber Komik kommentieren. Deshalb konnte ein durch die Schule akademischer Skepsis gegangener Agnostiker wie Cotta, dem zweifellos der Sinn mancher von ihm ehrerbietig vollzogener Riten abhanden gekommen war, das Amt eines Pontifex maximus loyal und ohne Heuchelei ausüben. Deshalb konnte er alle Gottesbeweise beiseite schieben und die religionsphilosophischen Doktrinen mit einer hinreißenden Geistesschärfe kritisieren, die keinen Stein auf dem andern unverändert ließ, und dennoch stolz bekennen: „Ich werde die Opfer, Riten und religiösen Bräuche immer verteidigen und habe sie immer verteidigt, und von der Vorstellung, die ich von den Vorfahren über den Kult der unsterblichen Götter übernommen habe, wird mich weder ein Fachmann noch ein Laie jemals mit seinem Gerede abbringen. Wenn es sich um Fragen der Religion handelt, dann folge ich einem Pontifex maximus wie Tiberius Coruncanius, Publius Scipio und Publius Scaevola, nicht aber einem Zenon, Kleanthes oder Chrysippos, und halte mich an den weisen Augur Caius Laelius, den ich lieber hören will als irgendeinen führenden Vertreter der Stoiker … Ich habe keinen der heiligen Bräuche jemals für verächtlich gehalten und bin der Überzeugung, daß Romulus mit der Einführung der Auspizien und Numa mit der der Opfer die Grundlagen unseres Staates (fundamenta nostrae civitatis) gelegt haben, der sich bestimmt niemals zu einer solchen Größe hätte erheben können, wenn die unsterblichen Götter nicht in höchstem Maße mit uns versöhnt wären”, — versöhnt, besänftigt und geneigt durch die gewissenhafte Beobachtung der überlieferten Kulte und Bräuche. Forschung und Lehre sind auch in theologischen Fragen frei; aber der kleinste rituelle Fauxpas wird als blasphemischer Verstoß gegen göttliche Einrichtungen und die staatsbürgerlich notwendige pax deorum unnachsichtig geahndet.
Cicero sagt damit durch den Mund des Pontifex Cotta noch einmal, was er schon an anderen Stellen eindrucksvoll festgestellt hat: Mit solcher Religiosität, die so wenig „erbaulich” und herzerhebend ist, haben die Römer ein Weltreich geschaffen. Es lohnt sich, im Sinne einer weltgeschichtlichen Betrachtung von der Art Jacob Burckhardts, über den Einfluß der eigenartigen römischen Auffassung von Religion sowohl auf die binnenstaatliche Zivilisierung als auch auf den imperialen Aufstieg des Römervolkes nachzudenken.
Ciceros Werke sind dabei ein unentbehrlicher Leitfaden. Außerdem sind sie eine fesselnde und immer wieder auch vergnügliche Lektüre.
VII.
Cicero ist recht eigentlich der Stammvater, Lieblingsheilige und Schutzpatron aller europäischen Humanisten. Er ist der erste große Humanist in des Wortes doppelter Bedeutung. Cicero hat uns beispielhaft vorgelebt, was Freude an griechischer Bildung bedeutet. Und er hat uns nicht nur das Wort humanitas hinterlassen, sondern auch die Gestalt des im weiteren Sinne humanen, humanisierten und humanistischen Menschen eingeprägt: den homo humanus. Er gleicht weit mehr dem kultivierten Gentleman als dem sich selbst verleugnenden Heiligen. Er hat das Grobe, Plumpe und Dumpfe angeborener Roheit nach Möglichkeit überwunden, ohne deshalb das Maß des Irdischen überschreiten zu wollen. Er hat seine Anlagen zu Güte, Nachsicht und Milde zum Erblühen gebracht, ohne deshalb die Fähigkeit zu entschiedener Härte verloren zu haben. Er ist großmütig, hat Geschmack an schönen Dingen und Sinn für überlegene Ironie wie für lächelnde Weisheit. Er ist überlieferungsfrommer Skeptiker, weil er die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen nicht überschätzt. Er ist nicht rechthaberisch, starrköpfig und rücksichtslos, aber auch kein schwächlicher Waschlappen. Gelassenheit, ja sogar ein Hauch von schwermütiger Resignation sind gestattet, nicht aber weinerliche Weichlichkeit. Extreme sind ihm fremd. Auf manche Fragen