Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990810569
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Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, in dem insbesondere die Deutschen in einer seit dem Fall Karthagos beispiellosen Weise zu den Besiegten gehören und, entgegen der inflationären Zunahme sich „Republiken” nennender Staaten, der Sinn für republikanische Freiheit und Würde allenthalben rückgängig ist, kann der auf der Verliererseite placierte Cicero wohl wieder mit etwas mehr Zuneigung oder wenigstens Milde rechnen. Inzwischen haben wir einige historische Lektionen erhalten, die drastisch bezeugen, daß die erfolgreich in den Rang von Weltseelen zu Pferde — so Hegel über Napoleon in einem Brief an Niethammer vom 14. Oktober 1806 — aufgerückten Agenten und Macher großer Politik die Erde in eine planetarische Schädelstätte verwandelt haben. Wir wissen auch, daß in dem, was unterlag, scheiterte und vertilgt wurde, Keime des Besseren enthalten sein können. Obwohl von der zur tellurischen Katastrophe avancierenden Weltgeschichte beiseite geschleudert und zermalmt, verkörpern sie in ihrer hingeopferten Ohmacht einen Einspruch gegen das sich steigernde Grauen. Wir verstehen besser als frühere Generationen den stolzen Ausspruch von Ciceros Zeitgenossen Cato Uticensis, ebenfalls eines Besiegten, der den Untergang der Republik durch Cäsars Sieg mit dem stoisch gefaßten Freitod beantwortete: Victrix causa Diis placuit, sed victa Catoni — wenngleich diese Sentenz, die ein Friedrich Gentz sich zu seinem Lebensgrundsatz zu eigen gemacht hat, einer Gesellschaft, die Fahnenflucht als allgemeines Menschenrecht verkündet, doch wieder so befremdlich oder sogar schockierend klingen muß wie die alten Verse vom Soldaten auf verlorenem Posten:

      Ich kämpfe ohne Hoffnung, daß ich siege,

      Ich wußte, nie komm’ ich gesund nach Haus.

      Doch verhalte es sich damit im einzelnen wie immer, so scheint Ciceros Untergang am 7. Dezember 43, zwanzig Jahre nach seinem Triumph über die Verschwörung des Catilina, heute wohl mehr Betroffenheit und Anteilnahme auszulösen als vor wenigen Generationen, die darauf vertrauten, daß Bürgerkrieg, Massenmorde und Rachejustiz zu den Greueln längst überwundener Zeitalter gehörten. Ich zitiere den Bericht des Plutarch:

      „Indessen kamen die Mörder schon heran, der Centurio Herennius und der Kriegstribun Popilius, den Cicero einst, als er wegen Vatermordes unter Anklage stand, vor Gericht verteidigt hatte; beide begleitet von ihren Schergen. Da sie die Türen verschlossen fanden, schlugen sie sie ein, und da kein Cicero zu sehen war und die Leute drinnen sagten, sie wüßten nichts, da soll ein junger Mensch, der von Cicero in den höheren Wissenschaften ausgebildet worden war, ein Freigelassener seines Bruders Quintus mit Namen Philologos — der ‚Wortfreund’ —, dem Kriegstribunen verraten haben, daß sein ehemaliger Lehrmeister in einer Sänfte durch dichtgewachsene, schattige Laubengänge zum Meer hinuntergetragen werde. Der Kriegstribun nahm einige Leute mit und rannte herum zum Ausgang, während Herennius im Lauf durch die Laubengänge eilte. Cicero bemerkte sein Kommen, befahl den Trägern, die Sänfte an Ort und Stelle niederzusetzen, und schaute selbst, indem er nach seiner Gewohnheit die linke Hand ans Kinn legte, mit starrem Blick auf die Mörder, von Staub bedeckt, mit ungeschorenem Haar und Bart, das Gesicht von Gram verzehrt, so daß die meisten sich verhüllten, als Herennius ihn abschlachtete. Cicero erhielt den tödlichen Hieb in den Hals, den er aus der Sänfte hervorstreckte, im vierundsechzigsten Lebensjahr. Dann schlugen sie ihm, gemäß Antonius’ Befehl, den Kopf und die Hände ab, mit denen er die Philippischen Reden geschrieben hatte; denn so hatte Cicero seine Reden gegen Antonius betitelt, und sie heißen noch heute so.

      Als die abgeschnittenen Teile nach Rom gebracht wurden, war Antonius gerade dabei, Wahlen zu leiten. Kopf und Hände ließ er über den Schiffsschnäbeln auf die Rednerbühne des Forums — der Rostra — aufstecken: ein scheußlicher Anblick für die Römer, die freilich nicht Ciceros Antlitz zu sehen glaubten, sondern ein Abbild der Seele des Antonius.”

      II.

      Als Politiker ist Cicero gescheitert und bis heute umstritten. Manche seiner Mißerfolge führt man zurück auf mangelnde Menschenkenntnis und seine Neigung, die harten Realitäten des Ringens um staatliche Macht an abstrakten Idealen zu messen und in unangemessener Weise sittliche Normen in Bereichen geltend zu machen, wo sie kaum durchsetzbar sind, weil sie hier mit der unerbittlichen Eigengesetzlichkeit politischer Machtbehauptung notwendigerweise zusammenprallen und den kürzeren ziehen müssen. Auch daß Cicero von eitlen Zügen nicht frei war, hat wohl dazu beigetragen, daß er sich als Staatsmann keinen bleibenden Lorbeer verdienen konnte. Wäre der Römer nichts als Politiker gewesen, so gebührte ihm bloß ein kleines Kapitel in der Geschichte des Altertums. Nur Fachhistoriker würden sich mit ihm im Zusammenhang mit der Catilinarischen Verschwörung eingehender beschäftigen. Cicero stellte dann kaum mehr als eine allerdings markante Episode im Übergang von der zerrütteten römischen Republik zum augusteischen Prinzipat dar.

      Doch Cicero steht der Nachwelt vorrangig nicht als Politiker vor Augen, sondern als Schriftsteller. Er gehört zu den fruchtbarsten Literaten der gesamten Antike. Obwohl etliche seiner Werke verlorengegangen sind — darunter „De gloria” und der vom heiligen Augustinus hoch geschätzte, ja geradezu als Gottesgeschenk gepriesene Dialog „Hortensius” —, so haben sich genügend Bücher erhalten, die uns Ciceros Gedanken über fast alles, was einen gebildeten und vielseitig interessierten Weltmann insgesamt bewegen kann, in wahrlich überquellender Weise vermitteln.

      Darüber hinaus ist Cicero der einzige Autor der alten Welt, von dem nicht nur jene Briefe überliefert sind, die er selbst als Sendschreiben für die Öffentlichkeit bestimmt hat, sondern auch zahlreiche vertrauliche Episteln an Freunde und Verwandte, deren Publikation ihr Verfasser gewiß mißbilligt hätte. Auf Grund dieser reichlichen Quellen, an deren Erhaltung Cicero nicht im geringsten gelegen war, wissen wir heute über sein Privatleben besser Bescheid als etwa über das von Dichtern wie Lukrez oder sogar Ovid. Ausgenommen vielleicht Augustinus mit seinen „Confessiones” und seelsorglichen Briefen, ist uns bis zu Goethe kein Mensch des Abendlandes als individuelle Gestalt so bekannt wie Cicero. Wir wissen um sein Menschliches und Allzumenschliches, seine Stimmungen, Schwächen und Launen, seine Vorlieben und Abneigungen, Ärgernisse und Wunschträume. Das läßt ihn einerseits liebenswert erscheinen, weil er uns dadurch nicht nur als Marmorstatue begegnet; andererseits bietet er sich naturgemäß auch in seiner unheroischen Gewöhnlichkeit so schutzlos dar, daß indiskrete Leser leicht in die Versuchung geraten, billig triumphierend festzustellen, daß dieser Große eben nichts als ein Mensch wie du und ich sei, der sich vor niemandem auszeichne. Dieser Gefahr vermag im Zeitalter einer zum Gesellschaftsspiel gewordenen reduktionistischen Entlarvungspsychologie nachgerade überhaupt kein noch so hervorragender Geist mehr zu entgehen, sofern nur sein Privatleben ausreichend bekannt ist oder man aus dem veröffentlichten Werk auf die Intimsphäre seines Schöpfers in platter Weise zurückschließt. Zweifellos hat ein solches Vorgehen seine detektivischen Reize und es ist ja auch nicht von vornherein verwerflich, sofern dabei das kluge Wort Hegels beherzigt wird: Für einen Kammerdiener, der dem Helden die Stiefel auszieht und ihm das Bett bereitet, gibt es keinen Helden; aber das beweist nicht, daß dieser kein Held, sondern jener nur ein Kammerdiener ist.

      Cicero, der glücklose Politiker, war zuvörderst ein eminenter politischer Schriftsteller und Redner. Achtundfünfzig Reden sind mehr oder minder vollständig auf uns gekommen. Deren jüngste Gesamtausgabe, zwischen 1970 und 1982 im Artemis Verlag erschienen, umfaßt sieben umfangreiche Bände. Sie erweisen Cicero als Meister lateinischer Oratorik von stilbildender Mustergültigkeit, der in einem eigenen Dialog „De oratore” die Grundsätze seiner Redelehre dargelegt hat. Bereits in seiner Jugendschrift „De inventione” (Von der rednerischen Erfindungskunst) hatte er den von der Vernunft geleiteten und verantwortungsbewußten Redner gleichsam als Philosophen im Gewand des Politikers gefeiert. Rhetorik, wie Cicero sie vorbildlich leistet und anspruchsvoll begründet, darf nicht mit eitler Phrasendrescherei, hohler Eloquenz oder verantwortungsloser Demagogie verwechselt werden. Als Ideal zeichnet er den allseitig gebildeten Redner, der nicht nur ein psychologisch bestens unterrichteter Menschenkenner, sondern auch mit der Philosophie — dieser „Mutter alles guten Handelns und Redens” —, dem bürgerlichen Recht, den Institutionen des Gemeinwesens und der politischen Geschichte bestens vertraut ist. Der vollkommene Redner ist mehr als ein Virtuose der Massensuggestion oder brillanter Dialektiker. Er zeichnet sich durch umfassende humanistische Bildung aus, die nicht bloßer Firnis ist, sondern seine gesamte Persönlichkeit prägt. Er fühlt sich der res publica