Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990810569
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Balbus der Wahrscheinlichkeit näher zu kommen schienen.” Aber im Grunde ist Ciceros Haltung, wie bereits mehrfach angedeutet, wesentlich vielschichtiger, umfassender und differenzierter. Er ist Stoiker, Pythagoreer, Peripatetiker und Skeptiker zugleich, überdies aber, wie Cotta, Inhaber eines hohen römischen Priesteramtes. Die Gestalten des Dialogs sind gleichsam Masken Ciceros. Mag er auch vom Epikureismus am wenigsten halten und von der Stoa am meisten angetan sein, so ändern diese Schwergewichte nichts daran, daß ihm keiner der miteinander wetteifernden philosophischen Gedankengänge ganz widersinnig erscheint. An jedem ist etwas daran, jeder enthält zwar nicht die volle Wahrheit, aber immerhin ein Quentchen davon. Einmal neigt er mehr zu dieser, ein andermal eher zu jener Auffassung. In manchen Augenblicken hält er die Götter für schönen Schein, der die hochgemuten Menschen entzückt, aber den Weltlauf nicht im geringsten beeinflußt. Dann wieder begeistert er sich an der zwischen Monotheismus und Pantheismus schwebenden Idee einer göttlichen Weltvernunft, die das All mit weiser Voraussicht lenkt und alles zum besten eingerichtet hat. Es gibt aber auch Stunden, in denen ihm alle religionsphilosophischen oder theologischen Versuche, mit den Göttern ins reine zu kommen, als ebenso viele Schiffbrüche vorkommen. Dann ist er ein Agnostiker, der eine rationale Erkenntnis des Göttlichen für unmöglich hält: Ignoramus et ignorabimus, Wir wissen es nicht und werden es auch nie wissen. Zugleich aber ist er, obwohl die Berechtigung wahrsagerischer Verfahren grundsätzlich bezweifelnd, stolz auf sein Augurenamt, das ihn verpflichtet, vor jeder bedeutenden Staatshandlung, etwa einem Gesetzesbeschluß, einer Kriegserklärung oder der Einberufung des Senats, den Willen der Götter aus dem Verhalten der heiligen Hühner oder Vorzeichen wie Blitz, Donner und Rabenschrei zu erkunden. Er sah keinen Widerspruch darin, stoischer Pantheist und der Volksreligion ergebener Polytheist, die Vernünftigkeit von Auspizien bezweifelnder Skeptiker und loyaler Orakelpriester im Dienste des Staatskults zu sein. Julius Cäsar, sein politischer Feind, dachte in diesem Punkt nicht anders. Ihm gelang das seltene Kunststück, sowohl Augur als auch Pontifex maximus, also Nachfolger Cottas, zu werden. Als Papst der römischen Staatsreligion war er für die offiziellen Totenfeste in höchster Instanz zuständig. Diese kultische Kompetenz hinderte ihn nicht daran, öffentlich zu bekennen, daß „der Tod alle menschlichen Gebrechen beendet und daß es darüber hinaus weder Freude noch Leid gibt” (Sallust: De coniuratione Catilinae 51). Auch von Horaz, der die offiziellen Götter ehrte und dichterisch verherrlichte, gibt es ähnliche Äußerungen, die beweisen, daß er, anders als beispielsweise die Anhänger der Eleusinischen oder Mithräischen Mysterien, von der unerbittlichen Endgültigkeit des Todes überzeugt war: Omnes eodem cogimur … (carmen 2, 3, 25 ff.), wir alle werden in den Orkus getrieben, zusammengetrieben wie eine Herde wehrloser Schafe muß jeder von uns ins ewige Exil des Totenreichs.

      Doch Horaz war Privatmann, kein Priester hohen Ranges wie Cotta, Cäsar und Cicero, der uns in „De natura deorum” das wahrhaft olympische Schauspiel eines die Theologie demolierenden Pontifex maximus vor Augen führt, die göttliche Komödie eines aufgeklärten Papstes, der sämtliche Gottesbeweise und Rechtfertigungen Gottes mit dem Witz eines Voltaire und dem Scharfsinn eines Feuerbach genüßlich zerstört und gleichwohl nach vollzogener Götterdämmerung mit hohepriesterlicher Würde die überlieferten Riten zu Ehren des römischen Pantheons vollzieht und unnachsichtig darüber wacht, daß die nonnenhaft lebenden Vestalinnen das ewige Feuer des Altars im Rundtempel der Herdgöttin auf dem Forum nicht ausgehen lassen.

      Kein Wunder, daß sich bereits frühchristliche Apologeten entzückt auf Ciceros „De natura deorum” und insbesondere Cottas Ausführungen stürzten, weil sie darin Munition für ihre Polemik gegen den heidnischen Götterkult zu finden wähnten. „Versucht es doch, Cicero eines Irrtums zu überführen!” rief Arnobius triumphierend seinen nichtchristlichen Widersachern zu. Sein Schüler Lactantius, der sich den Ruf eines „christlichen Cicero” erwarb, benützte in seinen „Divinae institutiones”, dem Versuch eines Kompendiums kirchlich fundierter Sittenlehre, den Römer geradezu als von Gott gesandten Wahrheitszeugen für seine Attacken wider das zu Ende gehende antike Heidentum: „Das ganze dritte Buch vom Wesen der Götter zerstört von Grund aus jeden Glauben an die Götter.” Lactantius sagt ausdrücklich: es zerstört omnes religiones. Selbstverständlich meinte er damit nur die von ihm bekämpften vorchristlichen Kulte, nicht das Christentum, das er vielmehr als Fortsetzung des Besten antiker Philosophie ausgab. Der katholische Kirchenvater stützt sich auf den heidnischen Pontifex und Skeptiker Cotta, wie ihn Cicero verewigt hat, um mit dessen Argumenten das Heidentum als völlig unhaltbar und widersinnig zu erweisen. Das ist eine Ironie der Geistesgeschichte. Heute allerdings scheint Lactantius’ ciceronianische Rechtfertigung des Christentums hinfälliger zu sein als Cottas herausfordernde Doppelposition als Kritiker philosophischer Theologie und Hoherpriester des römisch-heidnischen Staatskults.

      IV.

      Wir fragen uns, wie so etwas möglich sei. Nach beinahe zweitausend Jahren Christentum scheint es fast unvermeidlich, im Zusammenhang mit diesen repräsentativen Beispielen aus dem alten Rom von Heuchelei oder Zynismus zu sprechen. Wie läßt sich dies alles zusammenreimen: ein Oberpriester, der zwar alle Theologien studiert hat, aber keine einzige für richtig hält; ein Hierarch, der die ehrwürdigen Gottesdienste in solenner Weise begeht und himmlische Winke durch Befragung des Vogelflugs sowie anderer Omina einholt, aber gar nicht recht weiß, ob es überhaupt Götter gibt, jedenfalls daran zweifelt, daß sich über die Dinge des Jenseits mit den Mitteln philosophischer Theorie bündig etwas ausmachen läßt? Für ein durch das Christentum geprägtes Bewußtsein ist ein solcher Mensch beinahe notgedrungen ein Monster und eine Religion, deren Kleriker ein solches Doppelleben führen, eine groteske Farce. Ein areligiöser Beobachter der Moderne wird kaum umhinkönnen, hier von perfidem Priestertrug und zynischer Volksverdummung zu sprechen.

      Natürlich ist nicht zu bestreiten, daß zahlreiche Übungen der römischen Religion von den Pontifices und Auguren, insbesondere aber von den sich an sie wendenden Politikern, ganz bewußt zwecks Manipulation der Massen oder auch zur Ausschaltung konkurrierender Mitbewerber um hohe Ämter benutzt wurden. Wer das priesterliche Privileg hat, den Kalender laufend zu gestalten, der kann etwa durch Einlegung von Schalttagen oder -monaten die Amtsdauer eines Beamten zu dessen Vorteil oder Nachteil beeinflussen. Cäsar war nur kraft seines Pontifikalamtes in der Lage, neben einigen anderen Reformen auch die des Kalenders durchzusetzen, den sogenannten Julianischen Kalender, dem das reine Sonnenjahr zu Grunde liegt und der in Rußland bis 1918 gültig war. Auch der von dem katholischen Pontifex Papst Gregor XIII. 1582 eingeführte Gregorianische Kalender unterscheidet sich nur unwesentlich von dem Julianischen: bei Cäsar dauert ein Jahr durchschnittlich 365,25 Tage, Gregor XIII. setzte eine normale Jahreslänge von 365, 2425 Tagen fest. Wer für die zwingende Einhaltung der bei Staatsakten vorgeschriebenen Zeremonien zuständig ist, kann beispielsweise einen ihm mißfallenden Gesetzesbeschluß oder Versammlungsaufruf leicht wegen eines winzigen rituellen Formfehlers für ungültig erklären. Wenn ein Blitz genügte, um eine Staatsangelegenheit zu vertagen, weil er als ungünstiges Vorzeichen galt, dann brauchte ein gewitzter Konsul, dem daran lag, irgendetwas zu verzögern, bloß glaubwürdig zu behaupten, er habe am Himmel einen hellen Schein gesehen. Cicero zitiert den Ausspruch des älteren Cato, der sich darüber wunderte, daß ein Haruspex einen seiner Kollegen ansehen könne ohne zu lachen.

      Aber damit haben wir die Eigenart altrömischer Religion nur mit aufklärerischer Oberflächlichkeit erfaßt. Sie ist uns durch den Siegeszug der griechischen Mythen, der bereits lange vor Cicero begonnen hat, weitestgehend fremd geworden. Wer durch das humanistische Gymnasium gegangen ist, wird durchwegs meinen, daß sich die römische Religion von der hellenischen im Grunde nur durch die voneinander abweichenden Götternamen unterscheide, daß Vergil, Horaz und Ovid eben statt Zeus Jupiter, statt Artemis Diana, statt Demeter Ceres, statt Aphrodite Venus und statt Poseidon Neptun gesagt haben. Die Gottesvorstellung und der Kult der Römer, so vermuten sogar mit den antiken Autoren einigermaßen vertraute Leser, seien bestenfalls geringfügige Abwandlungen des griechischen Originals. Das trifft aber schon bei den doch stark vom Griechentum geprägten Dichtern nicht völlig zu; und es ist ganz falsch im Hinblick auf die alltägliche, unreflektierte und sozusagen vorliterarische Frömmigkeit der Römer.

      Ebenso hindert uns aber auch eine Übertragung von erst im Laufe der Ausbreitung des Christentums und seiner Säkularisierung aufgekommenen Begriffen auf die römische