Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990810569
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das Beste behalten,

      Und dann erlebt er das Höchste.

      Nur hat ein jeder sein Maß.

       Denn schwer ist zu tragen

      Das Unglück, aber schwerer das Glück.

       Ein Weiser aber vermocht es

      Vom Mittag bis in die Mitternacht,

      Und bis der Morgen erglänzte,

      Beim Gastmahl helle zu bleiben.

      Diesem Sokrates horchte ich zu, wie einer Stimme, die zu mir spricht Mit einem Male verstand ich, was das skandalöse Wort bedeuten könne, daß die rechten Philosophen „nichts anderes betreiben als zu sterben.” Ich ahnte, was Sokrates wohl meint, wenn er, mythische Bilder aufgreifend, von den Läuterungsverfahren in der Unterwelt und von den „reinen Wohnungen” der Seligen spricht. Und unversehens kam mir wieder der Titel eines Buches von Herbert Keßler in den Sinn, das er dem in Bammental bei Heidelberg lebenden Betriebswirtschaftslehrer und Ordnungstheoretiker Walter Thoms in sokratischer Verbundenheit gewidmet hat: „Das schöne Wagnis” … Von diesem spricht nämlich der das irdische Leben halb feierlich, halb ironisch verabschiedende Sokrates. Nachdem er von Tempeln erzählt hat, in denen statt der Götterbilder wirkliche Gottheiten gegenwärtig, und von „schöneren Wohnungen”, die nach dem Tode den wahren Philosophen zugedacht seien, fügt er hinzu: „Schon um dessentwillen muß man alles tun, um an Trefflichkeit und Vernunft im Leben Anteil zu haben. Denn schön ist der Preis und die Hoffnung groß. Allerdings fest zu behaupten, daß sich das so verhält, wie ich es vorgetragen habe, gehört sich nicht für einen vernünftigen Menschen. Daß es jedoch diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muß mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, da doch die Seele offenbar todlos ist, das scheint sich mir zu gehören und wert zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so — denn schön ist das Wagnis; und man muß sich damit wie mit Beschwörungen selbst heilen …”

      Es ist auch ein schönes Wagnis, den uralten und immer wieder neuen, durch kundige Übersetzung erfrischend verjüngten, aber nirgendwo billig aktualisierten „Phaidon” zu lesen. Einer von dem hellenistischen Dichter Kallimachos festgehaltenen Legende zufolge hat sich einer der allerersten Leser dieses Platonischen Dialogs das Leben genommen, indem er ausrief: „Sonne, leb wohl!” Nun, er hat offenbar des Sokrates eigene Warnung überlesen, daß man nicht davonlaufen solle, da wir Menschen nicht uns selbst gehören, sondern den Göttern. Gewiß, Philosophie ist Sterbenlernen, Einübung in die ars moriendi, wie Sokrates mehrmals herausfordernd erklärt, wobei man ihn sich freilich nicht griesgrämig, sondern lächelnd vorstellen muß. Philosophie ist Sterbenlernen, das richtige Leben aber eines der Philosophie. Das bedeutet aber keineswegs Vorbereitung auf den Selbstmord als zerebraler Dauerauftrag. Es bedeutet auch nicht „Sein zum Tode” im Stil Martin Heideggers oder Weltflucht nach Art einer gnostizistisch verdrehten Asketik. Eher darf man dabei schon an „Euthanasie” im ursprünglichen und schuldlosen Wortverstand denken: an leichten Tod, der dankbar, gelassen oder auch neugierig empfangen wird, nachdem für den Grabstein zwei Inschriften erdacht worden sind — für die Vorderseite: „Einmal und nie wieder!”, für die Rückseite: „Nun geht’s erst richtig los!” Sowenig das apollinische Gebot „Erkenne dich selbst!” eine Aufforderung zu hypochondrischem auf der Lauer Liegen vor der Höhle des eigenen Befindens enthält, sowenig ist platonisch vermittelte Sokratik morbide Verliebtheit in den Tod. Sie ist, wie keinem genauen Leser entgehen kann, weniger eine abgesonderte Lehre mit genau festgesetzten Inhalten, denn eine kritische Methode, bereits angebotene Erklärungsversuche durch vernünftige Unterredung zu prüfen, zu ordnen und zu begründen. Und Philosophie als Einübung ins Sterben ist dann bloß eine drastische Formel für das, was die unaufgebbare Voraussetzung geistiger Kultur ist. Sie ist der Inbegriff eines von triebhaftem Zwang losgelösten, zur zuchtvollen Beherrschung (nicht Ausrottung) der unteren Mächte fähigen Lebens. Sie ist tätige Kontemplation, asketische Humanität, Aufbruch ins Wesentliche oder, wie man noch zu Goethes Zeit zu sagen wagte, die Bestimmung des Menschen, sofern er sich nicht damit begnügen will (und er kann es eigentlich gar nicht), bloß eine zoologische Spezies zu sein.

      Sokrates, wie ihn Platons „Phaidon” zeichnet, verkörpert zum ersten Male in der uns bekannten Geschichte ein Menschentum, das einerseits vom heiligen Ernst unablässiger Wahrheitssuche, andrerseits von einer bis zuletzt sieghaften Heiterkeit erfüllt ist — wobei diese als zarteste und zugleich unbezwingbare Blüte philosophischer Anstrengung erscheint. Freudigen Ausdruck findet in ihr die lebensgeprüfte Erfahrung dessen, der jenseits der Angst steht, weil er einer gründenden Wahrheit gewiß ist, die, auch wenn das Schlimmste geschieht, von keiner Bosheit und Lüge getrübt zu werden vermag. Der in dieser Wahrheit gründende Märtyrer darf sagen: „Morior, ergo sum”, „Ich sterbe, also bin ich” — denn das, was sterben kann, ist gar nicht das im Gleichnis des „Ich” gemeinte Eine, Unversehrbare und Ewige. Was absterbend vergeht, ist nicht „Ich” und bin ich nicht. Tod bedeutet nicht Untergang, sondern Freilegung des ideenhaften Prinzips in uns. Wer den „Phaidon” aufmerksam liest, wird sich davon überzeugen können, daß Philosophieren in sokratisch-platonischem Stil, entgegen modernistischen Vorurteilen, nicht das geringste mit Weltverachtung, Leibfeindschaft und Todesdienst zu tun hat. Es nimmt allerdings, unabhängig von konfessioneller Bindung, das biblische Wort sehr ernst, das Luther so übersetzt hat: „Und was nutz hette der Mensch / ob er die gantze Welt gewünne / Und verlüre sich selbs / oder beschediget sich selbs?” (Lukas 9, 25) Solche Übereinstimmung gibt zu denken, wie bereits im vorangehenden angedeutet. Auch wenn es eine neuere Theologie nicht wahrhaben will, halte ich daran fest, daß Christentum und Platonismus, ungeachtet der verschiedenen Ebenen, nicht bloß durch einen absonderlichen Zufall jahrhundertelang Verbündete waren. Dies gilt keineswegs nur für die von griechisch-byzantinischem Geisteserbe durchsäuerte Welt der Ostkirche, sondern auch für den römisch-germanisch-keltisch geprägten „Westen”. Das beweisen Augustinus, Boethius, Johannes Scotus Eriugena, Anselm von Canterbury (der aus Aosta stammt), Pico della Mirandola, Leibniz, Novalis, Friedrich Schlegel, Maine de Biran, Othmar Spann, Amadeo Silva-Tarouca, Louis Lavelle, Michele Federico Sciacca und viele andere.

      Doch kehren wir zurück zu Sokrates’ Testament „Phaidon”, diesem Buch, dem das Vorrecht zukommt, in uns zu lesen, uns zu prüfen und — im glücklichsten Falle — uns zu guten Lesern zu bilden! Man kann oft hören, daß Philosophie wirklichkeitsfremd sei. Doch dies trifft nur in oberflächlichstem Sinne zu. Ist das menschliche Herz, weil es tief unter unserer Haut schlägt, deshalb ein lebensferner und überflüssiger Körperteil? Dem durch „Phaidon”-Lektüre zum besinnlichen, zum andächtigdankbaren Leser gewordenen Zeitgenossen wird die Antwort nicht schwerfallen: Platons Philosophie ist mitsamt ihrem sokratischen Herzen keine überlebte Philosophie des Todes, sondern eine lebenbildende Philosophie des Lebens, welche Schlußfolgerung auch die „Phaidon”-Herausgeberin Barbara Zehnpfennig zieht: „Denn die Suche nach der Erkenntnis der Form ist nicht Verachtung des Stoffs; sie ist Ausdruck des Willens, den Stoff zu verstehen. Das Streben nach Vernunft ist nicht Verachtung des Körpers; es ist Ausdruck des Willens, mit dem Körper und dem Körperlichen vernünftig umzugehen. Vernunft ist aber das Transcendens schlechthin, die Ewigkeit in der Zeit. So ist das vernünftige Dasein … ein ‚Sein zum Leben’, das das Leben nicht vom Tod, sondern den Tod vom Leben her versteht.”

      (1991)

       Cicero

      Staatsmann, Humanist und Repräsentant altrömischer Religiosität

      I.

      Ich komme aus anderen Zeiten Und hoffe in andre zu gehn.

       Franz Grillparzer

      Marcus Tullius Cicero lebte von 106 bis 43 vor Christus. Er war Advokat, Quästor, Ädil, Prätor, Konsul und Statthalter in der im Südosten Kleinasiens gelegenen römischen Provinz Kilikien. Durch eine Reihe aufsehenerregender Prozesse, in denen er bald als Ankläger, bald als Verteidiger auftrat, erlangte er schon früh den Ruf eines überragenden Juristen und Meisters der öffentlichen Rede. Berühmt wurde er durch sein Vorgehen