Der die Träume hört. Selim Özdogan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Selim Özdogan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960542032
Скачать книгу
Wunsch, dass ich nicht würde reden müssen, dass es auf einer anderen Ebene funktionieren würde.

      – NBA?, fragte ich.

      – Fußball, sagte er.

      – Meinetwegen, sagte ich.

      Ich hatte keine Chance gegen ihn. Gegen Ende ließ er mich aus Mitleid zwei Tore schießen.

      1991, We Can’t Be Stopped, Geto Boys

      Sie sind zu fünft am Bahndamm beim alten Bunker, der mit Gestrüpp überwuchert ist. Berkay, Abbas, Mert, Kamber und er. Mert hat gesagt, er hat alles dabei. Er holt drei Blättchen Zigarettenpapier aus der Packung und klebt sie aneinander, zwei längs und eines quer. Er reißt ein Stück von einer Straßenbahnfahrkarte ab und rollt sie zusammen. Hinter seinem Ohr klemmen zwei Zigaretten, von denen er jetzt eine hervorholt und über der Flamme seines Feuerzeugs erhitzt. Die anderen sehen neugierig und ehrfürchtig zu.

      – Warum machst du das mit der Zigarette?, fragt er.

      Nicht, weil er Mert in Bedrängnis bringen möchte, sondern weil er es nicht versteht. Erst nachdem er die Frage gestellt hat, kommt ihm der Gedanke, dass Mert es vielleicht selber nicht weiß, sondern nur etwas nachmacht.

      – Den Geschmack rausmachen, antwortet Mert.

      Dann leckt er die Zigarette dort, wo das Papier doppelt ist, längs an und zieht den Streifen fein sauber ab. Den Tabak verteilt er auf den Blättchen. Dann wiederholt er das Ganze mit der anderen Zigarette.

      – He, sagt er zu Abbas, du sollst die Augen offen halten, ob nicht jemand kommt, und nicht so starren.

      Dann holt er aus der kleinen Vordertasche seiner Jeans einen in Alufolie eingewickelten Klumpen Haschisch und erwärmt ihn über der Flamme seines Feuerzeugs, um ihn danach in den Tabak zu krümeln.

      – Wenn du ganz weiches Hasch hast, brauchste gar nicht warm zu machen, sagt er. Aber das hier bröselt sonst nicht.

      Er sieht, wie aufmerksam Kamber ist und wie begierig, gleich zum ersten Mal zu kiffen.

      Mert rollt den Joint, leckt die frei gebliebene Klebekante des zweiten Längsblättchens an und klebt ihn zu, bevor er das Querblättchen am Ende verzwirbelt.

      – Auf Lunge rauchen, sagt er, drin behalten, erst wieder ausatmen, wenn der Joint zurück bei dir ist.

      Die anderen rauchen alle Zigaretten und halten sich daran. Er muss husten.

      Später schicken sie ihn Weingummi holen, weil er der Einzige ist, der keine roten Augen hat.

      – Ich habe nichts gespürt, sagt er später zu Kamber.

      – Musst anfangen zu rauchen, sagt Kamber.

      7

      Mephedron war 2007 zuerst in Israel aufgetaucht, wo es eine Firma namens NeoOrganics vermarktete. Eine Substanz, die vorher von der Gesetzgebung nicht erfasst worden war und ab 2008 in Israel verboten wurde, aber noch nicht im Rest der Welt. Die Droge wurde fast ausschließlich über das Internet vertrieben. Vor dem EU-weiten Verbot 2010 gab es Hunderte Webshops, die Mephedron verkauften, das meist in China hergestellt wurde. Die angepriesene Pre-Ban-Qualität bezog sich auf dieses in professionellen Chemielaboren synthetisierte Mephedron. Seitdem schwankte die Qualität wohl stark.

      Es gab kaum dokumentierte Todesfälle, die auf Mephedron zurückzuführen waren, was mich ein wenig stutzig machte, aber für den Auftrag unerheblich war.

      Es gab in Drogenforen siebzig, achtzig, neunzig Seiten lange Threads über Mephedron, und ich bekam eine Ahnung, welche Euphorie es auslöste, wie Hemmungen wegfielen, wie das Musik-Erleben verstärkt wurde und wie geil es offenbar machte. Ich bekam auch einen Eindruck von den Konsummustern dieser Kids, von denen viele offensichtlich noch bei den Eltern wohnten. Ich las, wie innerhalb von zwanzig Stunden 5 Gramm geschnupft wurden, dabei hatten 0,2 Gramm schon einen deutlichen Effekt. Der Drang nachzulegen schien unkontrollierbar, und einige wurden erwischt von Eltern, die Sonntag Abend nach Hause kamen und ihr Kind, meist ihren Sohn, mit riesigen Pupillen, schwitzend und kiefermahlend vorfanden.

      Einer schrieb, wie er sich einen Taschentresor mit Zeituhr gekauft hatte, der sich erst nach einer vorher eingestellten Zeit wieder öffnen ließ. Und wie er in seinem Rausch fast eine Stunde dafür gebraucht hatte, den Tresor zu zerstören, um an seine restlichen 2 Gramm zu kommen.

      Kokain bringt dich nirgendwohin, verschweigt dir aber, dass du dort bist. Für Mephedron schien das noch stärker zuzutreffen. Allein der Konsum führte dazu, dass man mehr wollte, die Befriedigung trat nie ein oder nur so kurz, dass man sie sofort wiederhaben wollte. Das perfekte Verkaufsgut in diesem System.

      Es gab viel Pulver auf dem Markt, das als Mephedron verkauft wurde, aber gar keines war, vor allem, wenn man den Älteren glauben wollte, die von den guten Zeiten schwärmten, als noch keiner Pre-Ban sagte.

      Toni_meow behauptete, dass sein Mephedron nicht aus Indien kam, wo anscheinend viele andere synthetisieren ließen, und auch nicht aus irgendeiner Küchenzeile oder einem Wohnmobil in den Niederlanden oder sonstwo, sondern von einem erfahrenen Chemiker in seinem eigenen Labor hergestellt wurde. Reisförmige Kristalle. So schrieb er in seinen ersten Posts bei Dream Market. Er hatte damals dreißig Gratisproben à 2 Gramm verschickt und so seine ersten fünfundzwanzig begeisterten Reviews bekommen, die den Grundstein für seinen Erfolg gelegt hatten.

      Anfang dieses Jahres hatte Toni_meow für gute zwei Wochen kein Mephedron verkauft, weil die von seinem Chemiker synthetisierte neue Charge seinen Qualitätsansprüchen nicht genügte und vernichtet worden war, behauptete er. Bis zur Herstellung der nächsten Charge gab es nur Gras und MDMA.

      Es schien mir unwahrscheinlich, dass jemand kiloweise Drogen einfach vernichtete, weil die Qualität nicht gut genug war. Man konnte sie als B-Ware verkaufen, man konnte sie einem anderen Händler andrehen, man würde in der Regel einen Weg finden, um doch noch etwas Geld zu machen. Aber die Behauptung, man hätte sie entsorgt, flößte den Kunden das meiste Vertrauen ein.

      Als der Verkauf wieder begann, hatte er feste Packungsgrößen eingeführt. Während man vorher noch eine beliebige Menge bestellen konnte und ab 10, 20, 50, 100 und 1.000 Gramm Rabatte bekam, konnte man seit Februar nur 3,5 / 7 / 14 / 21 / 42 / 84 / 168 oder 336 Gramm wählen. Alle größeren Mengen auf Anfrage. Das erleichterte ihm wahrscheinlich die Arbeit beim Abwiegen, man musste nicht mehr auf Kundenwünsche achten und konnte auf Vorrat Pulver vakuumieren. Während der Grammpreis bei 3,5 Gramm 23 Euro betrug, waren es bei 336 Gramm nur noch 12 Euro, was aber immerhin vier Riesen waren und Toni offensichtlich immer noch genug Profit ließ.

      Er musste zusammen mit dem Gras und dem MDMA ungefähr 16–18.000 Euro Einnahmen im Monat haben. Und auf der anderen Seite saß ich da, allein an einem Rechner, 17.000 Euro in Aussicht und versuchte, ihn zu finden. Jemanden, der Drogen dealte ohne die übliche Gewalt des Milieus, ohne seine Läufer an die einschlägigen Plätze schicken zu müssen, ohne mit Festnahmen oder mit Diebstahl zu rechnen, ohne irgendeinem seiner Käufer seine Identität preisgeben zu müssen. Wahrscheinlich hatte er irgendwo ein Depot, wahrscheinlich hatte er Läufer, die die Ware vom Depot holten, verpackten und zur Post brachten und bei Sendungen, wo dies erwünscht war, die Sendungsverfolgungsnummern sortierten. Toni brauchte nur zwei, drei Stunden am Tag am Rechner zu sitzen, freundliche Posts zu schreiben, sich der Qualität seines Mephedrons zu rühmen, Bestellungen entgegenzunehmen und weiterzuleiten. Er brauchte ein Labor, einen Chemiker oder musste irgendwo im großen Stil Mephedron kaufen, ein wenig Ahnung von Computern und Verschlüsselung haben, mehr brauchte es nicht.

      Hätte ich aus Westmarkt rausgewollt, wenn Dealen so gewesen wäre? Ohne die Gewalt, ohne die Schlägereien, ohne die direkte Konkurrenz, ohne die Aufteilung, welches Gebiet wem gehörte. Aber ich hatte kaum gedealt, nach dem Jugendarrest hatte ich die Finger davon gelassen und nur noch ab und zu jemandem etwas mitgebracht. Es war nicht die Dealerei, die schlimm war, aber es gab keinen Frieden in einem Viertel, in dem so viel gedealt wurde, in dem so viel dreckiges Geld unterwegs war, so viel falsche Hoffnung, so viel Ausweglosigkeit, so viele Träume. Kein Frieden, keine Ruhe, keine Zukunft.

      Und