Der die Träume hört. Selim Özdogan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Selim Özdogan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960542032
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hatte an mich geglaubt. Ohne sie … Wer weiß, wo ich heute wäre? Ganz sicher nicht in diesem Viertel, in dieser Wohnung, in diesem Job. Ganz sicher wäre mein Leben anders verlaufen. Ich steckte so tief in ihrer Schuld, nicht nur bis zum Hals, ich war mit dem ganzen Schädel drin.

      Vielleicht hatte ich einfach nicht genug gelernt. Ich wusste nicht, wann ihre Bitterkeit angefangen hatte. Vielleicht hatte ich mich zu lange ferngehalten, vielleicht hätte es zumindest diese Sonntage immer geben müssen.

      – Undank, sagte sie, wohin man auch sieht, es ist alles nur Undank.

      Spätestens wenn der Tisch abgeräumt war, wenn sie mit ihrer Zigarette dasaß, vertieften sich die Falten zwischen ihren Augenbrauen und sie begann zu schimpfen, dass alles den Bach runterging, dass man niemandem mehr trauen konnte, dass Verwandtschaft, Freundschaft, Ehre nicht mehr zählten, dass alles nur noch ums Geld ging, jeder seinen Vorteil suchte, Kinder gegen Eltern aufstanden, Bruder gegen Bruder, Schwester gegen Schwester, der Mensch gegen Gott. Dummheit und Lüge regierten die Welt, jeder trug eine Maske, niemand zeigte sein wahres Gesicht, an jeder Umarmung hing ein Preisschild.

      Ich wusste nicht mal, was ich schlimmer fand: dass sie jedes Mal diese Wutrede hielt oder dass ich ihr meist zustimmen konnte. Und gleichzeitig genervt war von diesen Klagen.

      – Ich bin eine alte Frau, sagte sie, mit einem Bein stehe ich im Grab, wer kommt mich noch besuchen, wer ruft noch an und fragt mich, wie es mir geht, wer will die Zeit nutzen, die mir noch bleibt? Jeder rennt seinem Konto hinterher, vierundzwanzig sieben, wer denkt sich schon: Wir sind dieser Frau noch Dank schuldig? Wer sagt schon: Sie hat selber nicht gegessen, sondern alles verteilt, wer sagt schon: Sie hat nicht geschlafen und dafür Wiegenlieder gesungen und den Schlaf der anderen behütet, wer sagt schon: Sie ist selber nicht rausgegangen, aber hat uns alle Türen geöffnet, gegen die sie sich stemmen konnte? Wer weiß um den Wert einer alten Frau, die nicht mehr lange zu leben hat? Was habe ich getan, dass ich immer nur Rücken sehe? Was habe ich getan, dass diese Augen immer nur allen hinterherblicken?

      Manchmal packte sie die Trauer, manchmal packte sie die Wut. Ich saß hilflos da. Dass ich da war um zuzuhören, machte keinen Unterschied. Und ich konnte es sogar verstehen.

      Ich erinnerte mich an die Geschichte, die sie früher häufig erzählt hatte. An der Schwarzmeerküste der Türkei hatte sie als junge Frau gesehen, wie ihrer Schwester bei der Haselnussernte die Seile des Korbes auf ihrem Rücken in die Schultern schnitten. Abends hatte sie gesehen, wie wund diese Schultern waren. Es war das erste Jahr, dass ihre Schwester helfen musste. Sie versuchte jeden Tag Vorwände zu finden, um auch den Korb ihrer kleinen Schwester zu tragen. Sie hatte mir so oft von diesen wundgescheuerten Schultern erzählt, dass ich immer zuerst daran dachte, wenn es um eine Last ging, die jemand trug. Ich habe sie damals gefragt, was mit ihren eigenen Schultern gewesen war, doch sie sagte, sie sei es gewohnt gewesen. Ich wusste nicht, wann ihr Wunsch, die Last eines anderen zu tragen, in Bitterkeit umgeschlagen war. Vielleicht wusste ich es doch. Aber es half nicht. Nichts half je.

      Manchmal Wut, manchmal Trauer, manchmal Tränen in den Augen, manchmal Spuckenebel vor ihrem Mund. Ich hingegen wurde manchmal ungeduldig, manchmal war ich genervt, manchmal wütend, ohne dass ich hätte sagen können warum. Manchmal wurde auch ich traurig.

      Aber egal was war, lange Zeit hatte ich versucht, ihr trotzdem nahe zu bleiben. Irgendwann hatte ich damit aufgehört. Ich versuchte nicht mehr, sie in den Arm zu nehmen, ich machte nicht den Mund auf, um ihr zu sagen, dass sie mich hatte, dass ich ihr nie den Rücken kehren würde, dass mein Dank nicht enden würde, so lange ich lebte. Das hatte ich alles schon getan, doch es schien alles noch schlimmer zu machen. Der Fehler der anderen schien größer, weil ich ihn nicht hatte, sie fühlte sich stärker im Recht, weil sie mich als Kontrast hatte.

      Ich saß da und wollte weg. So wie ich aus dem Kiosk weggewollt hatte, weil ich das Gelaber der Kunden einfach nicht mehr ertrug. Und ich fühlte mich schlecht, weil ich keinen Unterschied machen konnte zwischen ihr und diesen Kunden.

      Ich erinnerte mich daran, wie ich früher sonntags manchmal verkatert gewesen war, wie ich geglaubt hatte, den Tag nicht überstehen zu können, wie ich mir vorgenommen hatte, keinen Alkohol mehr zu trinken, zumindest nicht am Samstag. Wie dieser Schädel zu explodieren schien, wenn ich mich bückte, um die Schuhe zuzubinden und wie der Schmerz kaum nachließ, wenn ich mich wieder aufrichtete.

      Der Kater war die Strafe für das Feiern gewesen. Ich wusste nicht, ob diese Besuche auch eine Strafe waren. Was hatte ich getan? Außer die Liebe zu nehmen, die sie mir freiwillig gegeben hatte?

      1987, Rhyme Pays, Ice-T

      Sie sitzen beide hinten auf einer Bank auf dem Spielplatz im Park, halb verborgen von einem Strauch. Eine Gruppe von acht Deutschen steht im Sandkasten und raucht, vierzehn, fünfzehn mögen sie sein.

      – Da hinten kommen Türken, lass uns verschwinden.

      Der Größte und offensichtlich Kräftigste unter ihnen, der, den sie Fuß nennen, sagt:

      – Irgendwen von denen werde ich schon kennen. Lass uns bleiben.

      – Lass uns abhauen. Die wollen doch nur Ärger.

      – Wir bleiben, entscheidet Fuß.

      Die Jungen auf der Bank hinter dem Strauch können sehen, dass die anderen Angst haben, aber Fuß hat das Sagen.

      Murat, Berkay und Abbas sind vorne in der Gruppe der Türken. Sie stellen sich nebeneinander direkt vor die Deutschen, ohne ein Wort zu sagen. Die beiden auf der Bank können sehen, dass einige von den Deutschen jetzt noch mehr Schiss haben, obwohl die drei vor ihnen gerade mal zwölf sind. Zwei Jahre älter als sie selber.

      Was guckst du so?, könnte einer von den Dreien sagen und es würde Ärger geben. Oder auch: Warum guckst du mich nicht an, wenn ich vor dir stehe?

      Erol, Kazim und Fatih kommen hinzu, die sind schon dreizehn, vierzehn, und alle stehen jetzt in einem Halbkreis vor den Deutschen.

      Jetzt können die Jungen auf der Bank die Angst fast riechen. Sie fragen sich, ob es zu einer Prügelei kommen wird oder ob die Deutschen rennen werden. Sie wissen, Berkay und Abbas sind heiß darauf, sich zu beweisen.

      Tarkan, Erci und Kerim kommen als Letzte. Noch bevor die anderen Deutschen es bemerken, sieht der kleinere der beiden Jungen das Lächeln auf Fuß’ Gesicht.

      – Tarzan, sagt Fuß, hebt die Hand und geht auf ihn zu.

      – Fuß, sagt Tarkan, was machst du mit diesen Losern hier?

      Die Hände schlagen auf Schulterhöhe ein.

      – Die wollten schon gehen, sagt Fuß, aber ich habe ihnen gesagt, lass bleiben, da ist bestimmt jemand, den ich kenne. Und da bist du.

      – Ja, da bin ich. Da habt ihr echt Glück gehabt, sonst hättet ihr alle aufs Maul bekommen. Ist ne Lebensversicherung, mich zu kennen. Wenn einer dir Ärger macht, brauchste nur zu sagen: Ich bin ein Freund von Tarzan. Mein Name ist ne Lebensversicherung. Tarzan, King von Westmarkt.

      Die Kleinen sind enttäuscht. Etwas später, als die Deutschen weg sind, sieht Tarkan die beiden auf der Bank.

      – Verschwindet, sagt er.

      Sie stehen auf. Als sie außer Hörweite sind, sagt der Größere zum Kleineren:

      – Wenn ich Tarkan gewesen wäre, hätte ich Fuß einfach trotzdem geschlagen.

      4

      Es war fast elf, als das Telefon klingelte.

      – Was hast du ihm gesagt?, fragte Ayleen aufgebracht, ohne auch nur Hallo zu sagen.

      – Was soll ich ihm gesagt haben?

      – Weiß ich nicht. Irgendetwas hast du gemacht.

      Sie schrie fast.

      – Was ist passiert?

      – Lesane hat Sami eine Kopfnuss gegeben.

      – Scheiße.