Keine Helden - Piraten des Mahlstroms. Nils Krebber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nils Krebber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958692978
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      Ein markerschütternder Schrei schallte durch die Straße. Eine blutbeschmierte Gestalt taumelte aus einer Seitengasse auf den Anführer mit der Laterne zu. Sie klammerte sich an den Mann und schüttelte ihn. »Es ist grauenhaft! Grauenhaft! Die Tore des Abgrunds, sie öffnen sich! Rettet Euch, RETTET EUCH!« Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die nächtliche Stille, dann ein grässliches Kreischen. Gelblicher Rauch quoll aus der Gasse hervor. Die Gestalt riss sich los und schlug dabei dem Wächter die Laterne aus der Hand. Dann stolperte sie davon. »Rettet Euch, die Dämonen des Abgrunds sind los. Rettet Euch!«

      Das war zu viel für die armen Gardisten - sie schlugen Alarm. Ein dreifacher Hornstoß ertönte, der alsbald in der Ferne beantwortet wurde. Gleichzeitig rannte einer der Wächter in Richtung von Aurelias Zielobjekt.

      Zufrieden lächelnd begleitete sie ihn von Dach zu Dach bis zum Eingang des Gasthauses. Schon nach kurzer Zeit konnte sie beobachten, wie sich Adrian, einen Mantel hastig über die Schultern geworfen, dem panischen Wächter anschloss.

      Aurelia hob das Seil von ihrer Schulter und befestigte einen dreifingrigen, metallenen Haken an einem Ende. Mit wenigen Umdrehungen holte sie Schwung und ließ ihn in weitem Bogen über die Straße, die angrenzende Mauer und schließlich in die Baumkrone eines der kleinen Obstbäume fliegen, in deren Schatten sie noch vor wenigen Stunden gelustwandelt war. Sie prüfte mit ein paar kräftigen Rucken den Halt des Seils, dann verzurrte sie das Ende am Kamin neben Ihr. Sie spähte noch einmal in die Tiefe der Gasse, warf einen Lederriemen über das gespannte Seil, ergriff ihn mit der anderen Hand und sprang mit Anlauf vom Dach. Es gab einen kurzen Moment des freien Falls, dann einen heftigen Ruck, und schon sauste sie an dem Seil entlang in Richtung des Gartens. Über der Mauer musste sie kurz die Beine anziehen, dann ließ sie den Riemen fahren und duckte sich zusammen, um den Sturz abzufangen. Sie landete heftig im weichen Rasen und rollte einmal, zweimal, bevor sie kurz vor den Rosen auf die Beine kam.

      Sie musste mit aller Macht einen Triumphschrei unterdrücken. Nichts machte so viel Spaß, wie sein Leben bei einer unnötig riskanten Akrobatikeinlage zu riskieren! Sie schaute sich schnell um und überprüfte, aus welchen der Fenster noch Licht schien. Erster Stock rechts, Erdgeschoss Terrasse. Wie sie vermutet hatte, war die Gräfin bei dem Tumult ebenfalls erwacht und saß im beleuchteten Empfangsraum, ein Buch auf den Knien. Aurelia machte sich keine Sorgen, dass sie etwas gesehen haben mochte. Der Raum war mit zwei Lampen und mehreren Kerzen beleuchtet, der Garten stockdunkel.

      Auf leisen Sohlen stahl sich Aurelia an eines der danebenliegenden Fenster, hinter denen kein Licht auszumachen war. Dahinter lag einer von zwei möglichen Räumen, aus denen der Inquisitor die Schatulle geholt haben konnte. Der andere in Reichweite war die Küche – nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich. Aurelia schob einen schmalen Haken zwischen die Fensterläden und hob den Riegel an, den sie am Tag vorher gelockert hatte. Mit einer geschmeidigen Bewegung war sie im Inneren. Vorsichtig tastete sie sich bis zur Wand vor, wo sie eine Öllampe fand, und entzündete den Docht. Schnell warf sie Ihren Umhang vor die Tür, damit niemand im Vorbeigehen Schatten durch den Spalt erspähen würde. Dann machte sie sich daran, das Zimmer zu inspizieren. Ein Schreibtisch, ein Wandschrank, Gemälde, Wandbehänge, eine Truhe. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass in den Gasthäusern der Churun irgendwelche komplexen Geheimfächer eingebaut waren. Schreibtisch und Wandschrank waren schnell durchsucht, blieb die Truhe. Ein aufwändig gearbeitetes Stück mit diversen Verzierungen, die Meeresungeheuer, Tritonen und andere Figuren aus dem Mahlstrom darstellten. Aurelia nahm die Öllampe aus der Halterung, um die Details des Verschlusses näher zu untersuchen. Ein schweres Schloss, wahrscheinlich nordländisch oder sogar eine zwergische Auftragsarbeit. Wer in so etwas investierte, beließ es wahrscheinlich nicht dabei.

      Vorsichtig strich Aurelia die Verzierungen am Deckel entlang und hielt gleichzeitig Ausschau nach abgenutzten Stellen oder verräterischen Lücken. Hier war eine Schnitzerei etwas locker, aber das war nur ein Transportschaden. Da! Der Dreizack des Laros, wie symbolisch! Aurelia hielt den im Dreizack verborgenen Schalter gedrückt, während sie mit der linken Hand die verschiedenen Werkzeuge ausprobierte, bis sie einen passenden Dietrich fand. Vorsichtig drehte sie den Nachschlüssel, bis sie ein Klicken hörte und die leichte Bewegung am Dreizack spürte. Sie wollte gar nicht wissen, was für eine unangenehme Überraschung auf sie gewartet hätte, wenn sie den Schalter nicht gefunden hätte. Giftdorne, Säurespritzer, sie hatte schon alles Mögliche gesehen, was Adelige so in Ihre kleinen Geheimverstecke einbauten. Langsam, in Erwartung weiterer gespannter Drähte oder ähnlichen Mechanismen, hob sie den Truhendeckel an.

      Der Anblick der Beute zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen.

      Als sie zurück über die Dächer huschte, konnte Aurelia einen Ausruf der Freude kaum unterdrücken. Sie waren reich! Reich! Keine Sorgen mehr. Keine kleinen Betrügereien mit irgendwelchen Matrosen oder schmierigen Beamten – völlige Freiheit. Es gab so viel, das sie mit diesem Geld tun konnte.

      Sie hielt kurz inne, während sie auf einem Wasserspeier balancierte. Was würde sie mit diesem Geld tun? Soweit hatte sie nie geplant. Aurelia ließ sich von dem Wasserspeier fallen und rutschte das Schrägdach hinab, um sich dann über die Häuserschlucht zu katapultieren. Eigentlich war es ihr immer nur darum gegangen, sich an den Reichen und Mächtigen zu rächen. Am Imperium, das ihren Bruder getötet hatte. An den Pfaffen, die Ihre Familie daraufhin in die Fänge bekommen hatten. An den Gilden, die Ihr verwehrt hatten, sich um Ihre Familie zu kümmern. Sie wollte Ihnen nur zeigen, dass all Ihre Regeln lächerlich waren. Aurelia landete im vollen Lauf auf dem nächsten Flachdach. Weiter! Sie wich einigen Taubenkäfigen aus und balancierte über eine Leine, die zwischen zwei Häusern gespannt war.

      Und jetzt? Was sollte sie mit all diesem Geld? Einer von ihnen werden? Eberhart hatte seine Pläne: Ein Schiff kaufen, eine Expedition in den Süden starten. Aber was hatte sie damit zu tun? Sie hasste das Meer fast ebenso, wie sie das Imperium hasste. Einen Moment blickte Aurelia an der Mauer nach unten – sie war am Hafen angekommen. Sie überlegte, ob sie nicht einfach den ganzen Sack mit der Beute ins Hafenbecken werfen sollte. Es hätte etwas symbolisches, die Macht des Adels in das Reich Ihres elenden Gottes zu werfen. Sollten Sie sehen, ob Laros ihn wieder hergab. Ihren Bruder hatte er behalten. Trotz all der Gebete und Spenden, die Ihre Familie seiner Priesterschaft in den Rachen geworfen hatte. Trotz all Ihrer Schwüre im Kloster, Ihrem Flehen.

      »Laros ist ein harter Gott. Er belohnt nur die Würdigen. Wie Siobhan Sturmgeboren, die den Schreckenskapitän zurück in den Mahlstrom trieb. Ist dein Bruder würdig, ein Sturmgeborener zu sein?«, hatten sie gesagt. Aurelia spuckte ins Meer. Nein, Laros würde diesen Reichtum gewiss nicht auch noch bekommen. Sollte Eberhart ihn nutzen, um dem Sturmgott ein Schnippchen zu schlagen mit seiner Flotte!

      Sie sprang in Richtung der Takelage eines der Marineschiffe und seilte sich aufs Deck ab. Bevor die Wache reagieren konnte, war sie schon über die Reling verschwunden und huschte zwischen den diversen Kisten und Ballen am Dock hindurch. In der Holzgasse verlangsamte sie ihren Schritt. Als Aurelia das Licht in Eberharts Fenster sah, fiel Ihr ein Stein vom Herzen, den sie da gar nicht dort vermutet hatte. Das Dickerchen hatte es nach Hause geschafft. Wenn er wollte, konnte er ganz flink sein, und ein Hexenjäger auf den Fersen schien die richtige Motivation zu bieten.

      Die Tür zur Schreinerei war offen. Das war zwar nicht verabredet, aber vielleicht hatte Eberhart das Abschließen in seiner Eile, nach Hause zu kommen, vergessen. Aurelia huschte durch die verlassene Werkstatt und die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Mit einem breiten Grinsen marschierte sie hinein, den Beutesack vor sich wie einen Jahrmarktpreis. Eberhart saß zusammengesunken an seinem Schreibtisch.

      Aurelia runzelte die Stirn. »Was ist los, Dickerchen? Wir haben gewonnen!«

      Er drehte sich um, und sein zerschlagenes Gesicht drückte in gleichen Maße Angst und Enttäuschung aus. »Es tut mir leid«, kam über seine geschwollenen Lippen, dann traf Aurelia etwas Hartes am Hinterkopf und ihre Welt wurde schwarz.

      4. Kapitel

      Aurelia erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Als sie versuchte, sich an den Kopf zu fassen, bemerkte sie, dass sie an einen Stuhl gefesselt war. Sie blinzelte ein paarmal gegen das Licht an, das ihr in die