Die Schwester führte den Gast tiefer in das Gebäude, zu einem Treppenhaus, das sich klaustrophobisch eng nach oben wand. Sie passierten zwei Stockwerke mit festen, verschlossenen Türen. Keine Menschenseele begegnete ihnen, und die dicken Wände verschluckten jegliche Geräusche. Einzig Eberharts eigenes, schweres Atmen drang an seine Ohren. Die Schwester selbst gab keine Geräusche von sich. Nicht einmal das Rascheln ihrer Roben oder ihre Schritte auf dem harten Steinfußboden konnte er wahrnehmen.
Im dritten Stock blieb die Schwester vor einer Tür stehen und klopfte dreimal an. Eine Klappe ganz ähnlich der am Eingang öffnete sich und ein weiteres Paar Augen, diese dunkelbraun, starrten sie an.
»Wer ist das, Schwester Agnetha?« Die Stimme ließ die Temperatur noch einmal fallen. Eberhart wunderte sich, dass man seinen Atem nicht sehen konnte.
»Ein Gesandter vom Ministerium, Oberschwester Ursula. Er ist hier, um Joachim zu sehen.« Schwester Agnetha schaute über die Schulter zu ihm. War das etwa Sorge in Ihrem Gesicht?
Die Augen musterten ihn durch die Klappe. Unmittelbar fühlten sich die gefälschten Papiere in Eberharts Tasche ganz und gar unzureichend an. Seine Wangen brannten, was aber auch an den drei steilen Treppenabsätzen liegen konnte. Trotzdem lächelte er sie gewinnend an und verbeugte sich, bevor er an die Tür herantrat.
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, werte Schwester, aber das Ministerium besteht leider auf dieser Inspektion. Ihr wisst, die Verhandlungen über die Unterstützungsgelder für das nächste Jahr steht unmittelbar bevor, und es wäre gut, wenn diese Sachen vom Tisch wären, bevor die Ratsmitglieder zusammenkommen.« Er lächelte unverwandt zu der Klappe herauf. Die Augen starrten auf ihn herab. Die Stille zog sich in die Länge. Eberhart wollte sich gerade hilfesuchend an Agnetha wenden, als sich die Klappe ruckartig schloss. Zwar hörte Eberhart nichts, aber er konnte erahnen, wie schwere Riegel bewegt wurden, dann öffnete sich die Tür.
Die Schwester, die dahinter sichtbar wurde, trug ein Habit, dass Agnethas zwar ähnelte, aber am Saum und den Ärmeln violett abgesetzt war. Um den Hals trug sie einen goldenen Anhänger in Form einer Taube, die mit einem Dornenzweig gefesselt war. Ihr Gesicht war durchzogen von Falten wie ein Gebirge von Flüssen, und ihre Mundwinkel zeigten Richtung Süden. Sie starrte auf ihn herab. »Ihr habt keine Ahnung, worauf Ihr Euch da einlasst, Wundschneider. Seid Ihr stark im Glauben?«
Eberhart stutzte. »Nun, ich spende regelmäßig im Tempel des Atzorn und bin getauft im Namen Loknars ...«
Die Schwester packte ihn an der Schulter und schaute ihm tief in die Augen. »Das meine ich nicht. Ist Euer Geist stark? Könnt Ihr Euch Dingen stellen, die jenseits unserer menschlichen Horizonte liegen?« Sie beugte sich so weit über ihn, dass ihre spitze Nase beinahe seine berührte. »Seid Ihr fähig, das Göttliche im Fleische zu akzeptieren?«
»Äh, ja, sicher?« Wenn die Schwester nicht so ernst gewesen wäre, hätte Eberhart laut losgelacht. Natürlich gab es die Götter, aber die kümmerten sich bekanntermaßen nicht um kleine Ganoven wie ihn. Die hatten genug zu tun mit irgendwelchen kosmischen Konflikten oder was auch immer die da oben so trieben.
Schwester Ursula trat einen Schritt zurück und schaute ihn zweifelnd an. »Ich werde Euren Besuch erlauben – aber seid gewarnt. Joachims ... Leiden kann sehr verstörend sein. Denkt daran, wir alle hier sind Kinder Churuns, und Ihre schützende Hand liegt über uns. Doch Ihr müsst Sie in Euer Herz lassen, auf das Sie Euch helfen kann.«
Eberhart legte eine Hand auf die Brust und verbeugte sich tief. »Ich danke Euch, Schwester. Es zeugt von wahrer Größe, über die Konflikte unserer Organisationen hinweg zu sehen. Wir sind alle Heiler im Auge der Göttin, und das Wohl unserer Schützlinge sollte immer an erster Stelle stehen.«
Widerwillig nickte sie. Dann vollführte sie eine schwingende Bewegung mit beiden Händen und ein warmes, beruhigendes Gefühl breitete sich in Eberhart aus. »Ihr Segen und Schutz sei mit Euch, Heiler.« Dann deutete sie ihm, hereinzukommen.
Das oberste Stockwerk des Sanatoriums wirkte noch verstörender als die unteren Gänge. Gebete, Ikonen und andere religiöse Symbole bedeckten die Wände. Die Schrift hob sich in Rot von den weißen Wänden ab, und das Wachs dicker, roter Kerzen troff aus den Wandnischen hervor. Es war stickig, Weihrauch und andere Kräuter wurden in großen Becken verbrannt. Die Bildnisse der Heiligen waren von überraschender Grausamkeit – ein Märtyrertod nach dem anderen, oftmals in blutiger Detailfreude dargestellt.
Eberhart folgte der Oberschwester durch den stillen Gang. Die Türen zu beiden Seiten waren weder beschriftet noch anders markiert. Nur eine kleine, verriegelte Klappe in Augenhöhe unterbrach die glatte Holzfläche, aber es gab keinerlei Hinweise auf die Insassen. Auch Schwester Ursulas Schritte waren so leicht, dass sie eher zu schweben schien denn zu laufen. Eberharts Schritte dagegen klatschten laut auf den kalten Marmor, und sein Atem ging wie ein Blasebalg. Inzwischen lief ihm der Schweiß die Stirn hinab und in die Augen. Er zog ein Tuch aus dem Ärmel und wischte ihn ab.
Als er den Blick hob, war Schwester Ursula neben einer Tür stehen geblieben.
Mit einer Geste hielt sie ihn zurück, dann näherte sie sich der Tür. Eberhart sah, wie sie noch einmal ihr Amulett berührte und tief einatmete. Dann öffnete sie die Klappe.
»Joachim? Du hast Besuch. Denk an unsere Regeln. Kein Schreien, kein Berühren. Bist du bereit, jemanden zu empfangen?« Keine Antwort war zu hören, aber Schwester Ursula schien zufrieden. Sie drehte sich um und nickte Eberhart zu. Dann verschloss sie die Klappe und holte einen Schlüsselring aus den Tiefen ihres Habits hervor. Zielsicher griff sie einen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Sie zögerte ein letztes Mal, dann drehte sie den Schlüssel zweimal herum, ließ den Bund wieder verschwinden und wandte sich an Eberhart.
»Ich werde die Tür hinter Euch verschließen. Ihr habt zehn Minuten, dann öffnen wir sie wieder. Währenddessen seid Ihr auf Euch allein gestellt.«
»Und wenn er – oder ich – Hilfe brauchen?«
Sie sah ihm tief in die Augen.
»Dann sei Churuns Gnade mit Euch.« Mit diesen Worten schob sie ihn durch die Tür und verschloss sie hinter ihm. Eberhart starrte noch einen Moment auf die Tür und sinnierte, warum der Klerus seine Auftritte immer derart übertreiben musste. Dann drehte er sich um und betrachtete die Zelle, in der er jetzt eingesperrt war. Der Raum war überraschend gut eingerichtet. Es gab ein Bett, einen Schrank, sogar einen kleinen Schreibtisch und zwei Stühle. Es sah alles in allem mehr aus wie ein Zimmer in einem hochklassigen Gasthaus als die Zelle eines gefährlichen Irren.
Auch der Insasse wirkte alles andere als bedrohlich. Er war schlank, feingliedrig und hochgewachsen. Sein blondes, fast weißes Haar war schulterlang und fiel ihm lose auf die Schultern und ins Gesicht. Er saß leicht nach vorne gebeugt und studierte konzentriert ein Buch, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Seine schlanken Finger waren auf dem Tisch gefaltet, nur der rechte Zeigefinger tippte in einem unregelmäßigen Takt auf und ab.
Eberhart wollte gerade zu einer Begrüßung ansetzen, da hob der Mann die rechte Hand. Eberhart zögerte. Er musterte den jungen Mann genauer. Durch die Haare konnte er seine Augen nicht sehen, aber die schmalen Lippen bewegten sich leicht, schienen die Worte zu formulieren, die er las. Der erhobene Finger war mit Tinte befleckt, als hätte er noch vor Kurzem etwas niedergeschrieben oder einen frischen Text korrigiert. Auch seine weiße Robe trug den einen oder anderen Tintenfleck, wenn auch größtenteils verblasst, als hätten sie sich gerade so gegen die Waschseife durchgesetzt. Das Handgelenk entlang zogen sich ein paar dünne, weiße Streifen – Narben? Eberhart versuchte, einen Blick auf den Text zu erhaschen, aber die Schriftzeichen waren ihm unbekannt.
Schließlich hob Joachim den Blick, und die Intensität ließ Eberhart erschauern. Die tiefblauen,