Im ersten Moment wusste Eberhart nicht, ob dieser Blick ihn wahrnahm, denn er schien nicht auf ihn fokussiert zu sein, aber dann wurde ihm klar, dass Joachim ihn irgendwie als Ganzes wahrnahm – dass er etwas sah, das weit über Eberharts Äußeres hinausging. Als würde er nicht nur auf ihn, sondern in ihn hineinschauen.
Eberhart fühlte sich so bloßgestellt wie noch nie in seinem Leben. Unwillkürlich wollte er den Blick abwenden, sich verstecken, aber der Blick hielt ihn gefangen. Der Händler konnte nicht sagen, wie viel Zeit verging – es hätte eine Sekunde oder eine Ewigkeit sein können –, aber schließlich erlöste Joachim ihn.
»Was führt Euch hierher, mein Freund?« Seine Lippen wölbten sich zu einem Lächeln, und Eberhart ging das Herz auf. Er fasste sich und trat ein paar Schritte an den Schreibtisch heran.
»Ich bin hier, um Euch zu befreien, Herr von Schwertwall.« Er hatte die Stimme verschwörerisch gesenkt »Ihr habt Freunde jenseits dieser Mauern, die Euch helfen wollen.«
Eberhart hatte mit vielen Reaktionen gerechnet, aber nicht mit schallendem Gelächter. Joachim warf den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Herzen. Unwillkürlich fiel er mit ein, denn die Freude war so rein, so spontan, dass er nicht widerstehen konnte. Er musste sich auf dem Stuhl abstützen und ihm schossen die Tränen in die Augen. Als sie sich wieder gefasst hatten, stand Joachim auf und kam zu ihm herüber.
»Danke, mein Lieber. Ich habe lange nicht mehr so lachen können. Schon allein dafür schulde ich Euch meine Zeit. Aber jetzt im Ernst – was wollt Ihr von mir? Wir wissen beide, das meine Familie da draußen keine Freunde hat – zumindest keine, mit denen ich irgendetwas zu tun haben will. Also?« Er legte Eberhart eine Hand auf die Schulter und blickte ihm unverwandt ins Gesicht.
Der Händler war einen Moment überrascht, aber dann schlugen seine Instinkte Alarm. Das war ein klassischer Trick, den er gerne selbst anwandte, um Leute in die Defensive zu drängen. Also fasste er sich und erwiderte den Blick dieser faszinierenden blauen Augen. »Entschuldigt, aber ich mache keine Scherze. Ich bin im Auftrag einer Person hier, die Eure besonderen Talente schätzt und bereit ist, Euch ein äußerst lukratives Angebot für Eure Unterstützung zu machen. Darüber hinaus, dass wir Euch hier herausholen, natürlich.«
Joachim lächelte weiterhin. »Setzt Euch doch erst mal, mein Freund. Wir müssen, glaube ich, ein paar grundsätzliche Missverständnisse klären. Wie darf ich Euch nennen?« Er ging zurück zu seinem Stuhl und setzte sich.
Eberhart nahm ebenfalls Platz und stellte sich vor. »Eberhart Brettschneider, Freihändler, Entdecker und neuerdings Abenteurer.« Er lehnte sich zurück. »Und was hat meine Auftraggeberin mir verschwiegen?«
Joachim legte die schlanken Hände zusammen und schaute ihn amüsiert über die Fingerspitzen an. »Nun, zunächst einmal muss ich nicht befreit werden. Ich bin freiwillig hier.«
Eberhart stutzte. »Warum, in Loknars Namen, sollte man sich freiwillig einsperren lassen?« Er dachte kurz nach. »Seid Ihr auf der Flucht? Versteckt Ihr Euch vor jemandem?«
Joachim hob anerkennend eine Augenbraue.
»Gut kombiniert. Ich bin gespannt, ob Ihr auch noch darauf kommt, vor wem ich mich verbergen will.«
Eberhart strich sich über den Mund und tippte sich mit einem Finger auf die Nase. »Nun, Ihr habt erwähnt, dass Ihr mit den Freunden Eurer Familie nichts zu tun haben wollt. Ich gebe zu, das meine Recherchen nicht allzu viel über die Schwertwalls ergeben haben. Euer Vater hat eine kleine Burg im südlichen Reichswald, aber Ihr habt Euch schon früh von ihm distanziert. Stattdessen seid Ihr in den Dienst der weißen Zunft eingetreten.« Er deutete auf das Zeichen, das auch seine Robe zierte. »Nimmt Euer Vater Euch das vielleicht übel? Möglich, aber Ihr habt ihm ja schon mit dem Ablehnen Eures Erbes vor den Kopf gestoßen, also habt Ihr vor ihm keine Angst. Oder ist es etwas, das Euch im Dienste der weißen Zunft widerfahren ist? Vielleicht ein unglücklicher Nachkomme, der Euch den Tod eines Verwandten nachträgt?«
Eberhart schüttelte den Kopf. »Nein, die Weiße Zunft kümmert sich für gewöhnlich um solche Probleme. Sonst wäre sie kaum so erfolgreich, was die Verdrängung der Schwestern der Churun angeht. Was uns zu Eurem selbstgewählten Exil führt.«
Er machte eine Geste, die das Sanatorium selbst umfasste. »Versteckt Ihr Euch etwa vor Eurer eigenen Gilde?« Er schaute sich kurz im Raum um. »Zweifelhaft – Ihr hättet zumindest eine Reaktion gezeigt, als ich in den Roben der weißen Zunft hier hereinkam – oder die Schwestern hätten mich gar nicht erst hergeführt.« Er beugte sich vor und zählte an seinen dicken Fingern ab. »Nein, wenn ich alles berücksichtige: Dass es keine wirklichen Verdächtigen gibt und sich meine Auftraggeberin geweigert hat, mir die genauen Talente zu beschreiben, wegen derer sie Euch braucht, und die Schwestern ein unfassbares Brimborium um Euch gemacht haben, führt mich zu einer klaren Schlussfolgerung.« Er deutete auf Joachims Brust. »Ihr versteckt Euch vor Euch selbst.«
Joachim klatschte langsam und theatralisch in die Hände.
»Exzellent kombiniert, mein lieber Herr Brettschneider. Tatsächlich bin ich nicht zu meinem Schutz hier, sondern zum Schutz aller anderen da draußen. Denn mein Talent, mein ... Erbe ist gefährlich. Glaubt mir, es ist besser für alle Beteiligten, wenn ich hier im Schoße der Göttin verweile.«
Sein Gesicht war ernst geworden, als er die letzten Sätze aussprach. Dann verzog sich die schlechte Laune wie eine Wolke, die sich nur kurz vor die Sonne geschoben hatte. »Aber das bedeutet nicht, dass ich mich nicht über einen Befreiungsversuch freue. Vor allem von einem netten Gesprächspartner wie Euch.« Er lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Also, warum erzählt Ihr mir nicht ein bisschen was über Euch und dieses Abenteuer, auf das Ihr mich entführen möchtet?«
»Nun«, setzte Eberhart an, »Ich weiß ja immer noch nicht, was das für ein unsagbares Talent ist, das Ihr mitbringen sollt, aber ich denke, dann werden wir wohl ohne auskommen müssen. Ein Anteil weniger, den wir abgeben müssen. Was angesichts der unfassbaren Reichtümer, die wir zu heben gedenken aber keinen wirklichen Unterschied macht.« Er schaute sich auf den Handrücken und suchte aus den Augenwinkeln nach einer Reaktion. Als keine kam, fischte er weiter. »Schließlich sollte man meinen, das Escobar del Mar genug Reichtümer angehäuft hat, dass man davon auch fünf Teilhaber mehr als reich machen kann.«
Das erzielte Wirkung.
»Del Mar? Ihr wollt auf die Suche nach dem Schreckenskapitän selbst gehen?« Joachim wirkte amüsiert, konnte aber ein leises Interesse nicht verbergen. »Sind das nicht alles nur Kindermärchen, um Schiffsjungen die Angst vor Laros‘ Zorn zu lehren?«
Eberhart lehnte sich ein wenig zur Seite, um auf dem engen Holzstuhl eine bequemere Sitzposition zu finden. »Nun ja, dass es einen Kapitän gegeben hat, der sich diverse Schlachten mit dem Imperium und der Sturmgeborene geliefert hat, ist hinreichend dokumentiert. Inwieweit er mit Dämonen und Untoten im Pakt war, wage ich mal nicht zu beurteilen, aber religiöse Texte tendieren in solchen Fällen gerne dazu, ein paar Wunder und Ähnliches hinzuzudichten. Viel interessanter ist, dass wir einen konkreten Hinweis auf die Lage der Mahlstrominseln haben. Und eine Gönnerin, die bereit ist, eine Expedition zu finanzieren.« Er beugte sich wieder nach vorne, was den Stuhl gequält knarren ließ. »Aber sie besteht darauf, dass Ihr dabei seid. Sie ist der Meinung, dass wir Eure Begabung auf jeden Fall brauchen.«
Er lehnte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und schaute Joachim herausfordernd an. »So, nun habe ich Euch so einiges über unser Unternehmen erzählt. Was ist denn nun diese wundersame Gabe, auf die wir nicht verzichten können?«
Der hob nur einen Finger und wackelte ihn hin und her. »Nicht so schnell, Eberhart. Ihr wollt ja etwas von mir, nicht umgekehrt. Diese mysteriöse Gönnerin – hat sie auch einen Namen?«
Eberhart lächelte breit. »Den hat sie in der Tat, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn Euch anvertrauen sollte. Wer weiß, mit wem Ihr noch so alles plappert?«
Joachim musste wieder lachen. »Ja, der Klatsch hier im Sanatorium ist furchtbar, da gebe ich Euch recht. Aber im Ernst, Ihr erwartet doch nicht von mir, das ich nur auf