Sanders steht auf, bringt das Tablett mit seinem Becher und Kaynees Glas zurück zur Theke, bedankt sich förmlich und macht sich auf den Weg zu seinem Labor. Dabei muss er das Entree erneut durchqueren.
Als er am Panoramafenster vorbeikommt, sieht er kurz nach draußen. Er stockt. Vor dem Tor fährt gerade ein Wagen des MedCon weg. Das dunkelblaue Gefährt mit dem weißen Dach verschwindet in einer Staubwolke, wie das Taxi zuvor, das Santana in eine neue, friedlichere Welt gebracht hatte. Kaynee hat recht, es würde in der Tat ein heißer Tag werden.
Als Sanders im linken Flur verschwindet, der zu den Laborräumen und Traumakapseln führt, denkt er nüchtern über den Fall Santana nach.
Das schwarzhaarige, dünne Mädchen hatte ein defektes Implantat gehabt. Der Schalter hatte einen Wackelkontakt, was dazu führte, dass sich die Hauptcluster nicht mehr voneinander lösen ließen. Ihre Persönlichkeiten waren immer mehr miteinander verschmolzen, letztlich hatten nur noch Fürsorger, Organisator und der allgegenwärtige Wachhund ihren Dienst getan. Allerdings hatten sie sich gegenseitig blockiert, sodass sich das Mädchen zum Schluss in seinem Kleinraumapartment verschanzt hatte, voll Angst, ohne Vertrauen zu sich oder der auf einmal bedrohlich wirkenden Umwelt, ohne Lebensmittel. Nachbarn hatten die Medical Control gerufen, nachdem sie das Mädchen über Stunden schreien hörten. Man hatte sie vorgefunden, mit blutigen Händen, wie sie versuchte, sich das nutzlos gewordene Implantat aus dem Schädel zu graben.
Man hatte sie hierher gebracht, nach Zenith, zu Professorin Paulson. Und damit zu Kaynee und auch zu ihm. Das Team ist perfekt aufeinander eingespielt und genießt bei MedCon eine hohe Wertschätzung, Professorin Paulsons wegen. Daher bekommen sie von den Notfalldiensten nur noch die interessanten Fälle. Keine herkömmlichen Aufspaltungen zur Vollendung des Persönlichkeitssets oder Notfall-Cloud-Absicherungen.
Dazwischen aber nimmt Professorin Paulson immer wieder Patienten an, die mit sehr viel Geld versehen sind und die unbedingt noch eine weitere Persönlichkeit haben wollen. Diese schlummert dann in der Meute – schlummert, bis sie auf Knopfdruck zum Einsatz kommt. Die Männer wollen zumeist einen juvenilen Anteil ihres Sexual-Ichs generieren. Das kommt immer besser als irgendein potenzsteigerndes Mittelchen und hat keine Nebenwirkungen. Die Frauen scheinen in der Masse zufriedener mit dem, was sie haben.
Sanders überlegt kurz. Nein, er hatte noch keine reiche Lady auf dem Stuhl. Seltsam, dass ihm das nie aufgefallen ist. Sanders geht weiter. Die Professorin finanziert mit den Reichen die Pro-bono-Fälle wie Santana.
Pro bono. Sanders schnaubt. Tue Gutes und schweige darüber. Schweige laut und medial, damit es alle mitbekommen. Es funktioniert. Zenith hat lange Wartelisten.
Sanders verdrängt die Listen und konzentriert sich wieder auf Santana. Er muss ihre runderneuerten Daten sichern, verkapseln und Maggie Finch übergeben. Er mag Maggie nicht. Oder gilt seine Abneigung der Institution, die sie verkörpert?
Dabei gibt es an dem Amt für Identitätsschutz, der IPA, nichts auszusetzen. Es ist notwendig geworden, nachdem anfänglich reichlich Schindluder mit Identitätsdiebstahl und Persönlichkeitsschmuggel getrieben worden war. Auf dem Schwarzmarkt hatte es bald nach Erfindung der Persönlichkeitsspaltung einen florierenden Handel mit Sexualsplits gegeben. Dabei waren das meist Hinterhofproduktionen, die, schlecht und stümperhaft gemacht, nur Schaden anrichteten. Die Ursprungsmenschen, denen das gewünschte Muster für den unbekümmerten Playboy, das nymphomanische Weib oder das, was man sich unter einer leidenschaftlichen Hure vorstellte, aus dem Kopf geraubt wurde, waren hinterher kaum lebensfähig. Als »Lost Souls« wussten sie nicht mehr, wer sie waren oder wohin sie gehörten. Diejenigen, die sich die fremden Muster aufspielen ließen, wurden die Geister nicht mehr los, die sie sich aufgeladen hatten. Die Technik war damals noch nicht so raffiniert wie heute. Man konnte anfänglich noch nicht kopieren. Man konnte zunächst nur stehlen. Und nicht wieder zurückgeben. Damals war die Identity Protection Agency aus einer Sondereinheit der Polizei heraus entstanden. In kürzester Zeit wuchsen die über das ganze Land verteilten Einheiten zu einem übermächtigen Wesen heran.
Neben den mobilen Einsatzkräften, die immer noch tagtäglich die Bezirke überwachen, teilt die IPA auch jedem CADIAS wenigstens einen stationären Beobachter zu. Denn in den heutigen, komplett vernetzten Zeiten, ist ein Neuronalmuster der Schlüssel zu jeder Art von Konto, zu Informationen. Zu Computerprofilen. Das Verbrechen hat sich verlagert. Daher wird nach jedem neuen Splitting, Refurbishing oder Back-up das neuronale Muster abgespeichert, eingekapselt und zur Verwahrung an die Datenkrake übergeben. Es dient dem Schutz der Privatsphäre, so sagt man. Man. Man. So sagt man.
Sanders bleibt vor der Tür zu seinem Labor stehen und zückt die ID-Card.
Eine nüchterne Stimme ertönt da in seinem Rücken. Ein Hauch von Tadel schwingt darin mit, aber nicht so offensiv, dass Sanders’ Wachhund anschlägt. »Da sind Sie ja, Sanders. Ich warte schon seit heute Morgen auf die Daten.«
»Miss Finch. Ich habe eben an Sie gedacht.« Er dreht sich zu ihr herum. »Sie bekommen, was Sie wollen. Geben Sie mir zwei Stunden.«
»Nicht eine Minute mehr. Sie wissen, dass ich jede Verzögerung begründen muss. Und ich würde Ihrem Ruf nur ungern … schaden.« Maggie hebt die rechte Braue ein Stück und schürzt die kirschroten Lippen. Dann tritt sie einen Schritt auf Sanders zu und legt dabei ihren Körper in eine dezente S-Kurve. »Ich bekomme also, was ich will, ja? Halten Sie Ihr Wort, Sanders?«
Sanders runzelt die Stirn. Sudresh weiß nicht, wie er auf Maggie reagieren soll. Seine Hilflosigkeit aktiviert Sanders’ Wachhund. »Ich glaube, Sie sollten wieder in Ihren Arbeitsmodus wechseln«, sagt der kühl. »Bevor Ihr guter Ruf Schaden nimmt.« Damit hat der Wachhund genug Laut gegeben, er zieht sich in den Hintergrund zurück, während sich Sudresh wieder zur Tür dreht, die ID-Card vor den Sensor hält und in seinem Labor verschwindet. Die Tür schließt sich mit dem gleichen leisen hydraulischen Seufzen, wie es beinahe allen Türen in dem Gebäude gemein ist.
Maggie Finch wechselt das Standbein, tut so, als ob sie sich den kurzen blonden Bob richten würde, und legt dabei dezent den Schalter hinter ihrem Ohr herum. Dann dreht sie sich abrupt um und geht den Flur hinunter, zu ihrem eigenen Büro. Die Ablehnung ist drei Meter weiter schon vergessen, jetzt hat sie sich um Zeitpläne, Berichte und Sicherheitsstufen zu kümmern.
Als Douglas am Abend wieder in die U-Bahn einsteigt, hat er den guten Vorsatz, sein Socket überprüfen zu lassen, wieder vergessen. Sue hatte ihn aus seinen Überlegungen gerissen, hatte ihm ein Extraprojekt zusätzlich zum Reporting aufgehalst.
Jetzt ist er müde und erschöpft. Die Augen schmerzen von der Bildschirmarbeit, der Kopf ist leer. Womit wird er sich die Zeit vertreiben, wenn er zu Hause ankommt? Er weiß es nicht. Vielleicht etwas lesen, vielleicht etwas zocken. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass er mit einem Bier vor der Videowall einschlafen wird, nur um mitten in der Nacht aufzuwachen und ins Bett zu gehen.
Douglas hat keine Freunde. Im Höchstfall sind es Bekannte, im Regelfall Typen, die er auf seinen eingefahrenen Wegen immer wieder sieht. Sei es der Besitzer des Imbissstandes, der Wachmann seines Blocks oder die Putzfrau in der Firma. Man grüßt sich, wünscht sich einen guten Tag, das war es aber auch schon. Die Sozialpersönlichkeiten sind allesamt mit einer Grundfreundlichkeit ausgestattet, ansonsten aber auch mit einer gehörigen Portion Distanz zum Gegenüber.
Jetzt ist allerdings Feierabend. Die Distanz schwindet, die Menschen drängen sich in der Bahn, die Stimmung ist heiter oder gereizt. Douglas hat seine Hand in eine der Halteschlaufen gehängt und die Augen geschlossen. Er will sie nicht sehen, die anderen. Da wird er angerempelt.
»Hey, Mann, mach Platz. Die Lady muss zur Tür durch.«
Douglas macht einen Schritt zur Seite, die Augen sind noch immer geschlossen. Er will gar nicht wissen, wer da