»Was meinst du damit?« Kaynee sieht wieder zum Fernseher.
Die Bilder laufen in einer Endlosschleife. In diesem Augenblick geht der Angegriffene erneut in die Knie. Kaynee schließt die Augen und wendet sich lieber Sanders zu. Sie stößt ihn leicht am linken Oberarm an. »Nun sag schon. Ich möchte nicht dumm …«
Sie bricht ab. Irgendwie erscheinen ihr die Worte in der Gegenwart der Geschehnisse hinter ihr auf einmal unpassend. Wer weiß schon, ob das Opfer den Angriff überleben würde? Kaynee nicht, so viel steht fest.
Sanders bemerkt ihr Unbehagen. »Lass uns in die Kantine gehen. Ich brauche einen Kaffee. Und dabei kann ich dir etwas von fehlgeschlagenen Aufspaltungen erzählen. Wenn du das an deinem freien Tag überhaupt hören möchtest.« Er zieht spielerisch an ihrem Pferdeschwanz.
»Lass das!«, ertönte es prompt, dann hakt sich Kaynee bei ihm ein und lacht ihn an. »Erzähl mir alles, was du weißt. Solange ich meinen Chilishake dabei trinken kann, ist mir alles recht.«
Ein paar Augenblicke später sitzen beide im Außenbereich der Kantine. Kaynee rutscht in ihrem Stuhl ein Stück hinunter, bis der Kopf auf der Rückenlehne Halt findet. Die Beine werden kurzerhand in die Höhe gestreckt und auf der Brüstung abgelegt, die die freischwebende Terrassenkonstruktion umgibt. Sie faltet die Hände über der Magengrube, schließt die Augen und wendet ihr Gesicht der Sonne zu.
Sanders beobachtet sie dabei. Wieder schleicht sich ein Lächeln auf seine unscheinbaren Züge. »Fertig?«, fragt er schließlich.
Kaynee hebt einen Daumen. »Ich höre.«
Sanders hebt die Hand zum Ohr und switcht sich in den Arbeitsmodus. Einen Moment später tritt Dozent Sudresh in den Vordergrund.
»Die Wilden also.« Sudresh starrt auf den sanft abfallenden Hang und denkt nach. Dann lehnt er sich zurück, streckt die Beine von sich und fängt an. »Du weißt ja, dass die Entität im postnatalen CADIAS in das Privat-Ich und das Arbeits-Ich aufgespalten wird. Dort werden die Grundlagen für das spätere Persönlichkeitsset gelegt. Die beiden neuronalen Hauptcluster, die dann später weiter gesplittet werden können, ganz nach Wunsch. Bevor die Kiddies in die Krippe kommen, bekommen sie ihr erstes Implantat und werden darauf geschult, den Schalter umzulegen und damit vom Sozialmodus in den Freizeitbereich zu wechseln und umgekehrt. Das war bei dir so, bei mir auch. Bei allen, die du kennst.«
Kaynee nickt leicht. Das ist Grundlagenwissen. Dass Sudresh immer denkt, dass alle anderen nur Idioten seien. Sudresh scheint ebenfalls davon auszugehen, dass all die Minderbemittelten um ihn herum schwerhörig sind. Er spricht stets lauter als nötig und immer in einfachen Sätzen. Kaynee hebt eine Braue und spürt, wie sich Widerstand in ihr breitmachen will. Da greift Kora sanft ein und erstickt Kassys Aufbegehren im Keim.
Sudresh bekommt derweil von den widersprüchlichen Gefühlen seines Einpersonenpublikums nichts mit – wie üblich. Er ist eine emphatische Niete, ein kleiner Asperger, nichts, was ihn selber aus dem Tritt bringt. Also fährt er ungerührt fort: »Normalerweise ist dies die Grundversorgung, die der Staat übernimmt. Aber es gibt immer wieder Eltern, die meinen, dass sie alles besser können. Oder, die ihre Kinder vor den postnatalen CADIAS’ schützen wollen. Individuen, die am Rande der Gesellschaft leben, versuchen immer wieder, sich dem System zu entziehen. Was sie dabei vergessen, ist Folgendes: Wird eine Aufspaltung nicht oder fehlerhaft durchgeführt, dann wird das Kind, oder besser gesagt, der Heranwachsende allein von den sozialen Umständen geprägt. Das kann gut gehen – tut’s aber oft nicht. Irgendwann kommt es zu Gewaltausbrüchen. Dabei ist es unerheblich, ob sich die Gewalt gegen andere oder den eigenen Körper richtet. Eines ist ihnen gemeinsam – sie sind Zeichen einer ungezügelten Seele, die sich in ihrer Hilflosigkeit nicht anders zu helfen weiß.«
»Und darum geben wir ihnen einen Rückzugsort? Aber ist das nicht eigentlich ein Einsperren, was wir hier machen?« Kaynee öffnet die Augen und sieht zu Sudresh hinüber. »Die Seelen. Warum lassen wir ihnen nicht allen Raum, den sie brauchen, und geben ihnen eine andere Art von Hilfe an die Hand? Etwas Langfristiges, etwas Begleitendes?«
»Weil der Raum für Individuen knapp geworden ist.« Sudresh bleibt nüchtern. »Die demografischen Fakten sprechen für sich. Wir sind zu viele geworden. Damit jeder so gut wie möglich leben kann, sind wir auf feste soziale Regeln angewiesen. Wo aber der Kompromiss regiert, kann es keine persönliche Freiheit geben.«
»Aber warum geht es uns denn dann trotzdem so gut? Warum kann ich dann glücklich sein?« Kaynee richtet sich in ihrem Stuhl wieder auf und schwingt die Füße von der Brüstung.
»Das liegt eben daran, dass du nicht nur mehr nur eine bist, sondern viele. Und jede deiner Persönlichkeiten verarbeitet die Realität anders, geht mit Enttäuschungen und anderen Erlebnissen verschieden um. Du nutzt dich auf so viele unterschiedliche Arten, dass man schon sagen kann, deine Freiheit liegt in dir selbst. In deiner Entität.«
Kaynee sieht Sudresh aus großen Augen an. Sie hat ihre Meute immer als selbstverständlich angesehen, aber niemals als Schlüssel zur Freiheit. »Ich glaube, ich bin nicht ganz mitgekommen.« Sie nimmt einen Schluck des Chilishakes. Die Schärfe in ihrer Kehle tut gut.
Sudresh setzt zu einer Erklärung an. Weiß aber nicht, wie er weiter machen soll. Bei so viel Begriffsstutzigkeit fehlen ihm einfach die Worte. Saul schaltet sich ein, Sanders’ Fürsorger. Er sorgt dafür, dass Sanders sich wieder in den Privatmodus stellt. Sanders’ Twen sitzt zwei Sekunden später Kaynee gegenüber, geschlagen mit aller Zuneigung, die er für die junge Frau hegt. »Wo sind wir stehen geblieben?« Er klingt etwas verwirrt, Saul hat so schnell eingegriffen, dass Sudresh keine mentale Notiz vornehmen konnte.
»Die Freiheit liegt in der Entität«, souffliert Kaynee. »Willkommen, Steve.«
»Ah, gut.« Steve zwinkert Kaynee zu. Dann räusperte er sich: »Nimm doch einmal den Abschied heute Morgen.«
Kaynee nickt leicht.
»Hättest du nicht deine fest umrissenen Persönlichkeiten, dann hätte Katys Trauer Keiras Professionalität beeinträchtigt. Du hättest Santana vielleicht die falschen Worte mit auf den Weg gegeben. Du hättest sie aus deiner eigenen Befindlichkeit heraus mit deiner Trauer belastet. So konntest du erst das eine machen – nämlich deinen Job. Und das andere kam danach. Ich hab dich doch gesehen, als du zurückgekommen bist. Katy hat geheult wie ein Schlosshund – was gut ist! Was so sein muss!« Sanders schiebt den Kaffeebecher beiseite und streckt Kaynee seine Rechte hin. »Wenn Katy noch jemanden zum Reden braucht. Sag ihr, ich bin da.«
Kaynee sieht auf seine Hand, streicht dann leicht mit den Fingerspitzen über seinen Handteller. »Danke für das Angebot. Aber ich glaube, sie will alleine mit sich sein.« Sie zieht ihre Hand zurück und sieht Sanders offen an. »Ist das die Freiheit, die du meinst? Nicht getrieben zu sein?«
Er nickt.
»Dann liebe ich meine Freiheit.« Kaynee sieht den Abhang hinunter, auf dem ihr Arbeitsplatz ruht. »Es wird ein heißer Tag werden. Ich werde mich lieber zurückziehen.« Sie erhebt sich. »Danke für deine Zeit, Sanders. Wir sehen uns spätestens, wenn ich mein nächstes Patenkind bekomme.«
Als Kaynee fort ist, greift Sanders sich hinter das Ohr und switcht Sudresh wieder in den Vordergrund. Denn Sudresh kann nicht nur gut erklären, er kann auch am besten alleine arbeiten. Und da Sanders noch Datenpflege betreiben muss, eine einsame und an sich verhasste Arbeit, gibt es niemand besseren dafür als eben Sudresh.
Außerdem hält es sein Fürsorger für notwendig, ihn von Kaynee abzulenken. Die ungeklärte Situation zwischen ihnen beiden macht Sanders schon seit einiger Zeit zu schaffen. Während ihm immer klarer wird, dass es mehr als Freundschaft auf seiner Seite ist, auf Steves Seite, weiß er nicht, was sie in Bezug auf ihn denkt oder fühlt. Er hat sich sogar schon dabei ertappt, eine flüchtige Abspaltung herbeiführen zu wollen, eine Persönlichkeit zu formen, die nichts anderes machen soll, als Kaynee endlich zu fragen, was Sache sei. Ein Nein könnte er auf diese Weise schneller verarbeiten. Und dann, wenn man die neuronale Clusterverschiebung nicht weiter verfolgte,