Der Lift tönt leise. Die Türen gleiten auf. Douglas tritt in die Kabine. Auf der kurzen Fahrt ins einundzwanzigste Stockwerk prüft er sein Spiegelbild. Ein ernstes, längliches Gesicht unter albernen blondbraunen Kräusellocken, ein Geschenk der Natur, das er nicht loswird, egal, wie sehr er es versucht – die Locken kehren zurück wie ein Bumerang. Braune Augen, zusammengezogene Brauen, prägnante Wangenknochen. Er lächelt probeweise. Es gelingt ihm nur halb, es erreicht seine Augen nicht. Die sind immer überschattet. Der Rest von ihm? Leidlich ansehnlich. Er ist nicht klein, aber gleichzeitig nicht so groß, wie er’s gerne wäre. Da ist aber immerhin kein Bauch, wie bei anderen Kollegen.
Der Lift tönt wieder, die Türen schieben sich auf. Douglas reißt sich von seiner Betrachtung los und geht schnurstracks zum Kaffeeautomaten.
Es ist nicht viel los hier oben. Es ist 10:32, die Meetings sind all überall überlaufen oder man trifft sich in den kleinen Kaffeeküchen auf den verschiedenen Ebenen, dort, wo man sich die schnelle Pause zwischendurch leisten kann.
Die Servicekraft mit den blonden Locken und dem üppigen Dekolleté, die an der Kasse sitzt, langweilt sich augenscheinlich. Sie bläst einen Kaugummi auf, lässt ihn zerplatzen, kaut, bläst erneut auf. Ihre Augen sind halb geöffnet. Für mehr lohnt sich die Mühe nicht. Als Douglas sich mit seinem Espresso nähert, richtet sie sich nur minimal auf.
»Alles, Sir?«, quäkt sie widerwillig.
»Bitte, wie?« Douglas ist abgelenkt. Die Uniformjacke der jungen Frau ist tief ausgeschnitten. Der mittlere Knopf hat sich gelöst und bietet einen interessanten Einblick.
»Ob das alles ist, Sir.« Sie nickt zu seiner Tasse.
»Ja, sicher.« Douglas stottert beinahe, fängt sich aber rechtzeitig. Dann wird er kühn. »Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?«
Sie stiert ihn verblüfft an, fährt sich unbewusst durch das Haar. Klemmt sich eine Strähne hinter das rechte Ohr und legt dabei den Schalter um. Da kräuselt sich ihr Gesichtsausdruck, als ob Wind über eine glatte Wasserfläche rippelt. Sie steht langsam auf, legt ihren Körper in erregende Kurven und beugt sich zu Douglas hinüber. »Wenn du aus dem Kaffee einen Piccolo machst, dann gerne doch.« Ihre Stimme ist um eine Oktave gefallen, sie schnurrt mehr, als sie spricht. Douglas hebt die Brauen. So einfach ist das? Das muss er Josh erzählen. Schnell greift er in die Kühltheke gleich neben der Kassenzone und holt das Gewünschte.
Er stellt die Flasche vor sie hin.
Ein Zittern geht durch das Mädchen. Wieder streicht es sich durch die Haare, dann richtet sie ihre Uniform mit ein, zwei Handstrichen. Dabei verändert sich ihr Gesichtsausdruck erneut.
Douglas entgeht es. Zu sehr hängt er mit den Augen an ihrem Vorbau und mit der Hoffnung an dem Versprechen, das dieser darstellt. »Jetzt brauchen wir nur noch einen Ort, an dem wir ihn vernichten. Hast du eine Idee?« Er versucht, harmlos zu klingen, beiläufig. Cool. Dabei ist er alles andere als das.
»Das macht dann genau siebenzwanzig, der Herr.«
Es ist eine professionelle Freundlichkeit, die Douglas entgegenschlägt. Er schaut der Kassiererin endlich wieder ins Gesicht und weiß, dass er den Piccolo umsonst gekauft hat. Das war’s dann wohl. Er bezahlt eilends. Nimmt Tasse und Flasche und zieht sich an einen Tisch am Fenster zurück. Verdammte Kiste, beinahe hätte es geklappt. Er wischt sich über das Gesicht.
Das ist die Welt, in der er lebt. Alle sind wandelbar. Die Menschen verhalten sich situationsgerecht. Effizient. Nur wenn sie sich unbemerkt fühlen, zeigen sie ihr wahres Gesicht. Doch welches ist das? Douglas blinzelt. Die Sonne scheint in das Panoramafenster, viel zu perfekt für seinen Tag.
Das Mädchen an der Kasse befindet sich nach dem kleinen Intermezzo immer noch in seinem Arbeits-Ich. Sie wirbelt durch ihren Bereich, wischt, putzt, ordnet. Der Kaugummi ist verschwunden, stattdessen spielt ein freundliches Lächeln um die Lippen. Mit dieser Freundlichkeit ausgestattet, taucht sie neben Douglas auf.
»Wünschen Sie noch etwas?« Dabei tauscht sie den halb leeren Zuckerstreuer auf dem Tisch gegen einen frisch gefüllten aus.
Douglas bemüht sich, seine Enttäuschung nicht durchblicken zu lassen. »Nein, danke.«
»Ich wünsche einen schönen Aufenthalt hier oben. Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« Damit dreht sie sich um und verschwindet wieder hinter ihrem Tresen. Douglas sieht ihr nach. Scheinbar erinnert sich ihr Arbeits-Ich nicht an das Geschehen vor fünf Minuten. Beneidenswert.
Er kippt seinen Espresso hinunter, steht auf und ist für einen Moment unschlüssig, was er als Nächstes machen soll. Dann entscheidet er sich für den Lift. Die Arbeit wartet auf ihn.
Unten angekommen öffnen sich die Lifttüren mit einem leisen Klingen. Douglas macht einen Schritt auf den Flur hinaus, sieht sich um. Niemand da. Kein Wunder. Alle sitzen vor ihren Rechnern und machen das, weswegen sie jeden Tag hierher kommen und wofür sie am Monatsende entlohnt werden.
Sein Socket juckt. Unwillkürlich wandert seine Rechte an die Stelle hinter dem Ohr und reibt dort, wo sich die Haut vor dreißig Jahren über dem Implantat geschlossen hat. Es nutzt natürlich nichts, denn das unangenehme Gefühl entsteht an der Stelle, wo das Socket sich nach innen gewandt ans Hirn schmiegt. Er versucht aber trotzdem immer wieder aufs Neue, es abzumildern.
Während Douglas den Gang hinunter trottet, zählt er im Geiste nach, wie oft er sich in letzter Zeit hinter der Ohrmuschel gekratzt und gerieben hat und kommt zu dem Schluss, dass es zu oft war. Soll ihm das ein Zeichen sein? Er sollte das überprüfen lassen. Er hat nur kaum Geld für sein normales Leben, wie soll er da die Kosten für ein neues Implantat plus der zusätzlichen OP begleichen? Die üblichen Kontrollen hat er schon vor langer Zeit aufgegeben. Auch die waren zu teuer. Also versucht er es mit der Vogel-Strauß-Methode: Solange er nicht darüber nachdenkt, solange ist alles in Ordnung. Dabei weiß Douglas ganz genau, was es mit den Sockets auf sich hat. Er weiß auch, dass sie zwischendurch ausgetauscht werden müssen, wenn sie Ärger machen.
Douglas erreicht seine Box und setzt sich erst einmal. Mechanisch entsperrt er den Rechner, schaut auf den Monitor. Alle Systeme laufen so, wie sie es sollen.
Wieder wandert seine Hand hinter das Ohr. Er war schon fast fünf Jahre alt gewesen, als man es ihm eingepflanzt hatte. Fünf Jahre. Normalerweise bekam man so ein Interface gleich nach der Geburt verpasst, aber sein Leben war nicht normal verlaufen, jedenfalls nicht in den ersten Jahren.
Aus der Nachbarbox dringt ein leises Fluchen herüber. Josh spielt wieder und scheint gerade zu verlieren. Auch heute kann er das Kind in sich nicht verbergen, will es ja auch gar nicht. Damit nimmt er eine Sonderstellung ein im Heer der Arbeiterameisen. Douglas denkt weiter. Weiß Josh, dass es Leute wie er waren, die die ganze Geschichte mit den Sockets und den multiplen Persönlichkeiten in Gang gebracht hatten?
Es waren Gamer gewesen, die sich zuerst die Interfaces installieren ließen. Damit konnten sie ihre Spielfähigkeit potenzieren. Nur hatte das irgendwann zu dem Phänomen geführt, dass die Spielcharaktere ein Teil von ihnen wurden, ein eigenständiger Teil. Die meisten der neuen Persönlichkeiten waren Krieger, gaben dem ursprünglichen Ich mehr Stärke, mehr Schutz.
Da schaltete sich schnell die Forschung ein. Zuerst entdeckte man verschiedene neuronale Muster. Dann gelang es, diese Muster isoliert und in einer personalisierten Cloud abzuspeichern. Als es später glückte, ein derartiges Muster wieder herunterzuladen und in einen bereits bestehenden Geist zu implantieren, war der Run auf die neue Technik nicht mehr zu bremsen. Schon fragte man sich, wie und wozu man sie einsetzen könnte. Herausgekommen war ein wild florierendes Gewerbe, in dem sich Personality-Designer, Psychologen und Techniker die Hände reichten und die ersten Menschen nach Maß schufen. Auf Knopfdruck ein anderer sein – das war das Ziel.
Das Ganze nahm solche Formen an, dass die Regierung reagieren musste. So wurde das Chippen der Neugeborenen zur Pflicht, ebenso wie die Basisabspaltung des allgemeinen Arbeits-Ichs. Alle sollten die gleichen Chancen bekommen. Wer dann mehr haben wollte – mehr Persönlichkeiten, mehr Kreativität, mehr Schutz, mehr Macht –, der