Salzgras & Lavendel. Gabriele Behrend. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Behrend
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658838
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der Entität keinen Platz hat. Die inneren Dämonen, die der Effizienz wegen verbannt werden. Ausschalten darf man sie nicht, sonst gerät der komplexe Geist aus dem Gleichgewicht, aber durch die Kartografie der neuronalen Strukturen kann man sie herausfiltern und abscheiden und hinter einem festen Schloss sicher verwahren. Trotzdem ist da immer dieser Hauch der Ungewissheit. Was könnte alles passieren, wenn einmal der Riegel aufgestoßen würde? Wenn Ken versagte?

      Kora flüchtet in die Sicherheit ihres Büros.

      Es ist kaum eine Minute verstrichen, seitdem sich die junge Frau auf die Bettkante gehockt hat. Nun steht sie auf, dehnt und streckt sich ausgiebig. Noch hat sie Kora als vorrangiges Ich in ihrem Geist aktiviert. Das Job-Team um Keira hat inzwischen alle nötigen Instruktionen für den Tag erhalten, aber solange Kaynee nicht ihren Fuß aus der Tür ihres Zimmers setzt, solange wird sie ihr Arbeits-Ich nicht die Führung übernehmen lassen.

      Also geht sie unter die Dusche, wie jeden Morgen. Spürt das Wasser auf ihrem Körper und stellt sich vor, dass es ein feinfädiger Landsommerregen ist. Mit ausgebreiteten Armen tanzt sie unter dem Strahl herum und singt dabei ein Erntelied. Bevor Kora das unterbinden kann, schreitet Karen ein. Alles, was Kaynee guttut, liegt in ihren Händen. Und wenn Kaynee singen will, egal, ob das einen Zweck erfüllt oder nicht, dann sorgt Karen dafür, dass sie die Zeit dafür bekommt.

      Nach dem Kaynee frisch geduscht und geföhnt das Bad verlassen hat, folgt der Sonnengruß. Zwölf Mal fließend hintereinander absolviert und Kaynee fühlt sich bereit für den Tag. Karen zieht sich zurück.

      Kaynee schlüpft in die Uniform von Zenith. Ein hellblauer Kasack über weißen Hosen, kein Schmuck, nur das Logo des Instituts auf der linken Brusttasche eingestickt, so geht Kaynee zur Cafeteria. Ihr Magen knurrt. Wie jeden Morgen zur gleichen Zeit. Alles hat sich in den täglichen Rhythmus eingefunden, alles ist konditioniert. Das bildet einen verlässlichen Rahmen, in dem es sich gut leben lässt. Keira und ihr Team sind jetzt für die nächsten zwölf Stunden am Start. Ein Knopfdruck am Socket hat Kora in den Hintergrund verbannt.

      Jeder Tag gleicht dem anderen. Douglas Hewitt, 32, hat sich in den Ablauf einsortiert, hat sich eine Nische gesucht und findet Zuflucht in ihr. Jeden Morgen steht er um 08:45 am Bahnsteig in der Vorstadt, fährt von dort aus in die City, passiert den Kontrollposten und verschwindet in dem Glasturm der Acodis Inc. Er nimmt den Aufzug in den dritten Stock, gerade oberhalb der Etagen für Sicherheit und Housekeeping, verschwindet dann in seinem Box Office und vertieft sich in die Arbeit.

      Er ist für die Sicherheit des Datenflusses zuständig, er hält die Dinge am Laufen. Dafür braucht man nur eine Persönlichkeit und die kann er bereitstellen. Er nennt sie sein Arbeits-Ich. Die offizielle Bezeichnung lautet Sozial-Ich, aber was soll’s. Eine andere Facette seiner Persönlichkeit hat er seinen Kollegen noch nie gezeigt, aber das ist anscheinend ganz okay. Jeder von ihnen hat sein eigenes Sozial-Ich, nur manchmal blitzen ihre anderen Seiten hervor. Die meisten lassen ihn in Ruhe, übersehen ihn gar. Konzentrieren sich auf die Dinge, die es zu tun gilt. Nur Josh, der Kollege aus der Nebenbox, scheint ein beiläufiges Interesse an Douglas zu hegen.

      Josh ist gerade frisch von der Uni rekrutiert worden. Ein fünfundzwanzigjähriger Milchbubi, der einen unentschlossenen Bartwuchs züchtet und jeden Tag ein anderes Mottoshirt trägt. Josh ist die Notfallpolizei, spezialisiert auf kreative Problemlösungen und Denkprozesse. Da kann es dann mitunter passieren, dass es kleinkindhaft zornig aus seiner Box tönt, wenn er in einer Aufgabe feststeckt oder – was noch schlimmer ist – Userdienst hat. Da ist es egal, ob man ein Wunderkind oder nur ein durchschnittlicher ITler ist, an keinem geht der unliebsame Kelch vorüber. Josh allerdings hasst es geradezu, Passwörter für Typen zurückzusetzen, die zu blöd sind, sich eine einzige Ziffernfolge zu merken. Er nennt es eine Beleidigung seines IQs und rächt sich bisweilen auf kindliche Weise dafür. Dann ist es ihm egal, dass er auf der Arbeit ist, und wechselt ungebremst in sein Privat-Ich.

      Douglas hat ihn einmal mit seinem Freund telefonieren hören und weiß seitdem, dass der Kasper von nebenan Jack heißt. Oder Jackass. Douglas fragt sich bisweilen, wie lange Sue dieses Benehmen noch tolerieren wird. Egal, ist nicht seine Sache. Aber weil er ihn mag, übernimmt Douglas manchmal Joshs Userdienst. Ihm ist es egal, was er macht, Hauptsache, er macht etwas, Hauptsache, sein Kopf ist abgelenkt.

      Auf diese Weise hat sich Douglas bisher durch sein Leben geackert. Immer am Denken, immer am Arbeiten. Immer ein Ziel vor den Augen. Das aktuelle Ziel heißt –

      »Hey, Douglas.« Josh steckt seinen Kopf in Dougs Quader. »Ist langweilig heute.« Er quengelt. Die schwarzen Haare strubbeln in alle Richtungen. Auf seinem Shirt steht »Nerds sind purer Sex«. »Lass uns in der Kantine ein paar Schnecken klarmachen.«

      Douglas schüttelt den Kopf. »Lass mal. Ich muss das hier bis heute Mittag fertig bekommen.« Er wedelt mit der Hand in der Luft herum, als wenn er ›das da‹ damit beschleunigen könnte.

      »Soll ich mal drüber schauen?« Josh nörgelt nicht mehr, seine Hand ist unwillkürlich zu seinem Socket gehuscht und hat den Schalter umgelegt. Jetzt klingt er interessiert, seine Stimme ist tiefer, die Haltung verändert. Das Sozial-Ich hat übernommen. Er stellt sich neben Douglas und starrt auf den Bildschirm. Nach einem Moment der Stille fliegen seine Hände über die Tastatur, vier Minuten später streckt er sich und tritt zurück. »Bitte schön, Problem gelöst.«

      »Danke, Mann.« Douglas lehnt sich in seinem Stuhl zurück und betrachtet seinen Kollegen, der gegen die Abtrennung zur Nachbarbox lehnt, die Arme verschränkt. »Willst du immer noch Schnecken angraben?«

      Josh schüttelt den Kopf. »Wie kommst du denn auf diese schiefe Ebene? Da drüben wartet noch ein kleines fieses Programm auf mich. Ich habe keine Zeit für …« Er hebt eine Braue. »… Schnecken. Bloß gut, dass Sue das nicht mitbekommen hat.«

      Ein ungemütliches Schweigen breitet sich zwischen den beiden aus. Douglas sieht auf seinen Monitor. »Lass gut sein, Josh. Viel Erfolg.«

      »Klar. Ebenso.« Damit zieht Josh sich in seine Box zurück.

      Douglas bleibt alleine zurück, wieder einmal kalt erwischt von der Wandlungsfähigkeit seines Officenachbarn. Wie kann er damit leben?, fragt er sich. Vom Quengelbalg zum Arbeits-Ich in Nullkommanix und das scheinbar von ihm selber unbemerkt.

      Douglas schließt die Augen. Was tun? Dadurch, dass Josh seine Arbeit gemacht hat, kann er einen ganzen Vormittag für andere Dinge nutzen. Nur – welche? Vielleicht doch erst einmal in die Kantine gehen, einen doppelten Espresso trinken.

      Er sperrt den Rechner, steht auf. Geht an den Reihen der Box Offices vorbei, Richtung Fahrstuhl. Die Kantine liegt im einundzwanzigsten Stock, man hat einen freien Blick über die City. Ein freier Blick, ein klarer Kopf – den kann Douglas jetzt gebrauchen. Der Twin-Lift lässt auf sich warten. Douglas sieht den Gang hinunter. Aber da ist niemand, weder Postdienst, noch Sue, die Floor-Verantwortliche. Sue. Er verzieht das Gesicht.

      ›Was machen Sie hier, Douglas? Warum sind Sie nicht in Ihrem Office?‹ Er hat ihre Stimme im Ohr, diese strenge, kalte Stimme, die nicht zu dem zierlichen Körper mit den sanften Kurven passen will. Dabei kann sie ganz anders. Das weiß er, weil er sie einmal draußen gesehen hat, in der Mittagspause. Es war im letzten Sommer gewesen und ihr Sozial-Ich war anscheinend so entspannt, dass sich eine andere Sue in den Vordergrund geswitcht hat. Eine kleine Sue hatte mit Piepsstimme nach Eis am Stiel verlangt und lief einem Schmetterling hinterher, der sich in den weitläufigen Innenhof verirrt hatte.

      Das Spiel hatte ein jähes Ende gefunden, als sie in den Abteilungsleiter der Abrechnung gerannt war. Der, ansonsten jovial und umgänglich, hatte innerhalb eines Wimpernschlags seinen Wachhund von der Leine gelassen, Sue angeschnauzt und abgekanzelt. Die begann zu greinen. Dem Abteilungsleiter rutschte daraufhin ganz privat die Hand aus. Die Ohrfeige schallte über den Innenhof, sodass auch die letzten Mitarbeiter ihre Gespräche unterbrachen und sich umdrehten. Doch da gab es schon nichts mehr zu sehen. Sue verschluckte sich an einer letzten Träne, stand aber wieder gerade und stählern an ihrem Platz. Sprach leise mit ihrem Gegenüber. Danach hatte sie sich freigenommen.

      Eine weitere Entgleisung hatte Douglas nicht mehr