Douglas schlägt die Decke zurück, entwirrt seine Füße und springt aus dem Bett. Drei Schritte weiter steht er in der Nasszelle, greift sich die Tablettendose auf dem Regal unter dem Spiegel und schüttelt sich eine Handvoll Pillen in die Hand. Fliegenkacke, Fliegenkacke, alles voll mit Fliegenkacke! Douglas legt den Kopf in den Nacken und zerbeißt die Kapseln. Erst als er den bitteren Brei auf der Zunge spürt, wie der aufquillt und die ganze Mundhöhle ausfüllt, kippt er ein Glas Wasser hinterher. Danach steckt er den Kopf unter den Wasserhahn. Das Rauschen übertönt das Lachen, das immer leiser wird, sowie die Chemie ihre Wirkung entfaltet.
Eine Viertelstunde später steht Douglas auf der Straße, das Fahrrad an seiner Seite. Er sieht sich um. Linksherum, rechtsherum. Dann steigt er auf. Er hat einen Plan zu befolgen. Der Grüngürtel wartet auf ihn. Tatsächlich?, wispert es da in ihm. Warum soll er gerade auf dich warten? Douglas schiebt den Gedanken beiseite und macht sich auf den Weg. Der führt ihn gen Westen. Bald schon hat er sein Viertel verlassen und radelt in die äußeren Ringe Suburbias.
Je länger er durch diese Gegend radelt, alles sauber, aufgeräumt und weitläufig, desto mehr hat er das ungute Gefühl, nicht hierher zu gehören. Das Gefühl der Fremde kriecht ihm die Arme hinauf, schiebt sich unter das leichte T-Shirt, das er trägt und von dort aus den Rücken hinunter. Er radelt schneller.
Kurz bevor er auf die Ausfallstraße zum Grüngürtel fährt, blickt er nach rechts. Neben ihm ragt ein mittelgroßes Haus in den blauen Himmel. An der Seite befindet sich ein kleiner Spielplatz mit Klettergerüst, Sandkiste und Schaukel. Douglas schließt die Augen. Er kennt das Gebäude. Er ist dort aufgewachsen. Damals, nachdem Mommy und Poppa – er steigt in die Eisen, dass die Bremse kreischt.
Er dreht sich noch einmal um. Ja. Das staatliche Sozialisationsheim, wie es in der Amtssprache heißt. Die Kinderverwahranstalt, wie es der Volksmund betitelt.
Douglas sitzt wieder auf und tritt in die Pedale. Während die Räder singend den Asphalt fressen, voran, voran, immer voran, wendet sich sein Geist rückwärts.
»Hallo, Douglas. Ich bin Mistress Keen. Keine Angst. Du wirst dich bei uns bestimmt ganz schnell einleben.« Mistress Keen lächelt ihn mit strahlend weißen Zähnen an. »Das hier ist Melody. Sie wird deine Patin sein und dir alles zeigen, was du wissen musst. Nicht wahr, Mel? Das machst du doch gerne.« Wieder zeigt Mistress Keen alle ihre Zähne. Danach erhebt sie sich und streckt den Rücken durch. »Dann geht mal, ihr beiden. Halte Augen und Herz offen, Douglas. Das hier ist ab heute dein Zuhause.«
Damit wendet sie sich an den Mann, der Douglas hierher gebracht hat, und überlässt Douglas der Obhut eines zwölfjährigen Mädchens mit blonden Haaren, das bislang noch kein einziges Wort gesprochen hat. Es vollführt einen Knicks, obwohl Mistress Keen mit dem Rücken zu ihm steht. Dann dreht es sich zu Douglas herum und weist mit dem Kinn leicht in Richtung Tür. »Lass uns gehen.«
Douglas dreht sich noch einmal zu Mistress Keen herum, die sich leise mit dem Mann unterhält. »Wilde, tatsächlich?« Sie klingt schockiert.
Der Mann räuspert sich. »Die Mutter war eine echte Multiple, ohne Kontrollmechanismus, er ein kleiner Vertreter, hat sich jeden Morgen an den Passierstellen zur City eingefunden. Kleine Jobs, kleines Geld, kein Raum für große Sprünge oder ein komplettes Persönlichkeitsset, aber er hatte immerhin die Basisversion. Nachbarn haben die beiden gestern Abend am offenen Fenster streiten hören. Er wollte sie und den Kleinen wohl endlich in ein billiges CADIAS schaffen, aber sie hat sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt. Das haben Beobachter vom Block gegenüber berichtet.«
»Und dann?«
Der Mann seufzt. »Sie sind bei dem Handgemenge aus dem Fenster gestürzt. Wer wen gezogen oder gestoßen hat, darüber gibt es unterschiedliche Aussagen. Diese Frage bleibt wohl für immer offen.«
»Und der Kleine war nie im postnatalen CADIAS? Warum müssen immer die Kinder unter diesen verwirrten Menschen leiden?« Mistress Keen streicht sich hinter das Ohr und sieht jetzt sehr streng aus. »Das werden wir also so schnell wie möglich nachholen müssen. Aber mehr als die Basisversion wird nicht drinnen sein, Sie wissen ja, die Kosten!«
Der Mann nickt knapp. »Hauptsache, es kümmert sich jemand um ihn.«
Douglas versteht nicht alles, was die beiden bereden. Aber das Herz schlägt ihm bis zum Hals und er fühlt sich verloren.
»Kommst du jetzt?« Melody lächelt ihn zuckersüß an, dreht sich um und geht los.
Douglas zuckt mit den Schultern, folgt ihr schweigend. Er weiß nicht, was er sonst machen soll. Er weiß nur, dass Poppa und Mommy nicht mehr wiederkommen. Das hatte ihm der fremde Mann gesagt, der ihn aus der Wohnung getragen hat, als sei Douglas nicht viel mehr als eine Lumpenpuppe. Sie seien tot. Ob Douglas das verstehen würde? Und dass es niemanden geben würde, der sich um ihn kümmern wollte. Deswegen würde er jetzt zu einer netten Tante gebracht, die ganz viele andere Kinder hat, denen es ebenso ginge wie Douglas selbst.
Douglas hat keine Zeit für Tränen. Er weiß nicht, was der Mann ihm da alles zu erklären versucht. Er versteht nur das eine: Mommy und Poppa sind nicht mehr da. Und nun geistert nur ein Wort durch Douglas’ gequälte Seele. »Wilde!« Zurück bleibt ein tiefes schwarzes Loch voll Angst.
Draußen vor der Tür bleibt Melody stehen. Sie greift sich an den Hinterkopf, genau hinter das rechte Ohr. Für einen Augenblick erstarrt sie, dann zuckt der Kopf wild hin und her. Einen Moment später dreht sie sich zu Douglas um, sie wirkt größer, bulliger. Der Blick ist scheel. »He, Kleiner. Dass du mich ja nicht verrätst, klar?«
Douglas sieht sie mit großen Augen an. Was hat die da gemacht? Und was sollte er schon verraten? Und wem?
Melody nestelt eine Packung Kaugummis aus ihrer Hosentasche, schiebt sich einen Streifen in den Mund und beginnt heftig zu kauen. Sie schmatzt dabei und wirkt so ganz anders, als eben noch in dem Büro von Mistress Keen. Sie mustert Douglas abschätzig. »‘n kleiner Wurm biste, nichts weiter. Pass mal ja auf, dass ich dich nicht zerdrücke. Und hey, das ist keine Warnung. Das ist ein Versprechen. Tu, was ich dir sage, dann geht’s dir gut. Aber wehe, wenn nicht.« Mel hebt die linke Augenbraue und schwenkt die rechte geballte Faust unter Dougs Nase. »Wenn diese Knospe aufgeht, gehst du unter. Verstanden?«
Douglas nickt und verschluckt seine Furcht. Ihm schwant, dass dieses Mädchen ihn nicht trösten wird. Mommy. Poppa, Wilde, Ungeheuer, Monster …
Douglas schüttelt den Kopf. Die alten Bilder sollen endlich aus seinem Kopf verschwinden, aber die Eintönigkeit des Summsumm der Reifen auf dem Asphalt ist wie ein zäher Klebstoff, an dem die Erinnerungen haften bleiben.
Douglas ist auf dem Damm unterwegs, der Suburbia umgibt. Innerhalb des Dammes – oder des Grenzwalles, wie Douglas ihn auch nennt – liegt das gelobte Land. Terra cognita. Alles ist bekannt, selbst die letzte dunkle Gasse im Getto. Es ist nicht alles schön, aber erforscht. Das gibt Douglas die Sicherheit, die er braucht. Außerhalb herrscht Wildnis. Da sind zwar die bewirtschafteten Felder, aber die sind letztlich nur ein Versuch der Menschen, der Natur habhaft zu werden, sie zu normieren und der Effizienz zu unterwerfen.
Douglas bremst sanft ab und lässt das Rad ausrollen. Warum nur scheut er sich so vor der Weite? Und warum zieht es ihn trotz dieser Furcht immer wieder auf den Damm? Er steigt ab, stellt das Rad ordentlich ab und bleibt am Rande des Weges stehen, die Arme in die Seiten gestemmt, den Blick auf die Ebene gerichtet, die ihm hier im Westen noch graubraun trostlos zu Füßen liegt. Er holt tief Luft. Schließt die Augen und denkt an den Traum der letzten Nacht zurück, an die Steilküste und das salzige, salzige Meer. Er sieht den kleinen Weg, der sich bis zum Kamm der Steilküste emporwindet, den Weg, auf dem das Lachen stiften gegangen ist. Vielleicht sollte er ihm folgen?
Douglas bläht seine Nasenflügel. Tief atmet er die schale Luft mit dem leichten Geruch