»He da, aufgepasst!« Ein schrilles Klingeln reißt Douglas aus seinem Tagtraum und lässt ihn einen Satz nach hinten machen. Ein Grüppchen Spandexradler rast lachend an ihm vorbei. Douglas ist vergrätzt. Blöde Typen, für wen halten die sich? Nur weil sie ihren Rädern Rennslicks aufgezogen haben und sich in grellbuntes Elastikgewebe stecken, gehört ihnen der Damm nicht allein.
Er schwingt sich wieder auf sein Rad. Alt ist es und gebraucht. Für zuverlässig befindet es Douglas, treu, stabil, sicher. Lowtech, die nicht kaputtgeht. Er tritt heftig in die Pedale.
So knapp war er davor gewesen, das Hinterland seines Traumes zu erkunden. Douglas würgt an seiner Wut. Schneller wird er, immer schneller. Bald fliegt er auf dem Damm dahin, so gut es der alten Mühle eben möglich ist, immer den Spandexclub vor Augen. Doch egal, wie er sich anstrengt, die Lücke zwischen ihnen und ihm wird immer größer. Nach einer Biegung verliert er sie endgültig aus den Augen.
Douglas verlangsamt das Tempo. Er keucht und schwitzt und ringt nach Atem. Als er den Kopf nach rechts wendet, sieht er das erste Grün. Douglas fährt langsam weiter, den Blick immer auf die Felder geheftet. Es ist der Sommerweizen, der dort heranreift. Noch ist es ein hellgrüner Flaum auf dunkler Krume, aber schon bald werden die Halme und Ähren hochstehen und sich im Wind biegen.
Douglas hält neben einem Stein an, stellt das Rad ab. Er zieht sich Sneakers und Socken aus und deponiert sie neben dem Stein. Danach richtet er sich auf. Ein Blick links, einer rechts, niemand zu sehen. Er ist tatsächlich ganz alleine hier. Douglas steigt den Damm hinunter, seine nackten Fußsohlen streifen zunächst über Unkraut und Wiesenblumen, dann erreicht er die Niederung, in der die Felder angelegt sind. Hier ist der Boden feucht und satt, er schmiegt sich an Douglas’ Sohlen. Es schmatzt leise, wenn er die Füße anhebt. Der junge Weizen ist noch weich und nachgiebig. Douglas geht vorsichtig durch die Reihen, konzentriert sich auf seine Füße, auf den Boden, auf die Kühle, die in ihn eindringt.
Irgendwann bleibt er stehen und schließt die Augen. Mit der rechten Hand tastet er nach dem Socket und legt den Schalter um. Das Sozial-Ich weicht. Douglas ist jetzt nur er selbst und niemand sonst. Er breitet die Arme aus und lässt den Wind an sich vorbeistreifen. Das ist es, denkt er. Das ist das Leben. So soll es immer sein. Und er steht weiter im Wind, eine lebende Vogelscheuche. Dabei wird sein Herz weit und leicht und das Glück fließt in ihn hinein. Es kriecht aus den Füßen zu seiner Wirbelsäule hoch und weiter in seine Brust. Von dort strömt es in die Arme und schließlich in den Kopf. Douglas fühlt sich dizzy und leicht entrückt. Kurz nur flackert sein innerer Alarmknopf auf – Achtung! Kontrollverlust! –, da holt er schon tief Luft und lässt den Atem langsam durch die Nase wieder entweichen. Für diesen Moment soll alles vergessen sein.
Als ein Taxi am Samstagmittag vor dem CADIAS von Professorin Paulson vorfährt, soll es keinen Bewohner abholen und in ein neues, verbessertes, weil aufgeräumtes Leben mitnehmen. Es bringt auch keinen Menschen, angefüllt mit Wünschen, Träumen oder Seelenpein. Das Taxi hält an, rollt ein Stück weit aus, als ob der Fahrer die Bremse nicht zu kräftig betätigen will. Nach ein paar Momenten öffnet sich die Beifahrertür und ein langes, schmales Bein schwingt sich auf roségoldenen High Heels hinaus. Einen Moment später folgt das zweite. Ein dunkles Lachen ertönt, dann erstirbt es in einem lang gezogenen Kuss.
Kandy schält sich nur wenig später vollends aus den Tiefen des Taxis, lässt die Tür zuklappen und klopft noch einmal auf das Dach des Wagens. Kutscher, fahre er hinfort! Und das macht der Fahrer auch. Zügig rollt der Wagen vom Hof, Kandy steht inmitten der aufspritzenden Kiessteinchen und sieht mit einem katzenhaft zufriedenen Ausdruck dem Wagen hinterher. Sie schwankt etwas.
Sanders, der das Ganze aus der Eingangshalle mit verfolgt hat, sieht seine Chance gekommen. Natürlich hat er Kandy erkannt, nur dieser Anteil von Kaynee kann auf solchen Absätzen unfallfrei durch die Welt stöckeln. Sanders liebt Kaynee schon lange, aber Kandy im Besonderen. Vor allem Stan, Sanders’ Pendant zu Kaynees Kandy, ist scharf auf die Frau, die dort in der Mittagshitze steht. Vielleicht hat er ja zur Abwechslung mal Glück. Manchmal geht es eben nicht darum, der Erste, sondern der Letzte zu sein. So bleibt man in Erinnerung.
Sanders schiebt Barbara einen Geldschein über den Tresen. »Danke für die Info, Babs.«
Diese streicht ihn unauffällig ein. Wenn Stan nur wüsste, dass sie in diesem Moment gar nicht Barbara ist. Verhalten zupft sie sich an den hochgesteckten Haaren. Am liebsten würde sie die Haarspange lösen und Sanders zeigen, dass auch sie einen Part hat, mit dem man Spaß haben kann. Am liebsten würde sie Becky von der Leine lassen. Aber ihr Organisator lässt sie nicht.
»Jederzeit wieder, Stan«, murmelt sie und wendet sich ihrem Rechner zu, als wolle sie nicht wissen, welche Rolle sie in diesem Spiel einnimmt. Verlegen legt sie den Schalter wieder um. Immer schön Distanz halten und niemals Stellung beziehen. Stattdessen mitnehmen, was gerade möglich ist.
Als Kandy langsam den Weg hinaufgeht, schlendert ihr Stan entgegen und stellt sich ihr in den Weg.
Kandy bleibt stehen und schiebt ihre Sonnenbrille in den zerzausten Haarschopf zurück. Sie kann Stan nicht leiden, der sich viel zu lässig, mit beiden Händen in den Hosentaschen, vor ihr aufgebaut hat.
»Ja, ich bin immer noch auf, Stan«, nimmt sie ihm den Wind aus den Segeln, »Und bevor du mir die Uhrzeit erklärst, nur um danach die Brösel aufzulesen, die von mir übrig sind – vergiss es einfach.« Sie lächelt ein überzuckert süßes Lächeln, das ihren Worten aber in keiner Weise die Schärfe nimmt.
Stan hebt beide Hände in gespielter Abwehr. »Gut gebrüllt, Löwin!« Er kommt einen Schritt näher. »Hast du vielleicht Lust auf einen Absacker, bevor sie dich wieder wegsperren?« Er lächelt wissend, hebt eine Braue.
Kandy überlegt kurz, gähnt kurz. Stan ist ein Arsch, aber Kaffee wäre gut. Zuckt dann mit den Schultern. »Auf einen Ristretto.«
Stan gönnt sich ein winziges Siegerlächeln, stellt sich an Kandys Seite und legt einen Arm um ihre Schultern. Seine Finger schließen sich um ihren Oberarm, spüren ihre Wärme. »Na, dann los«, murmelt er und bugsiert Kandy den Weg zur Empfangshalle hinauf.
Barbara sieht nicht zu den beiden hin, als sie eintreten. Sie ist am Rechner beschäftigt, jetzt wieder voll im Arbeitsmodus, irgendetwas gibt es immer zu ordnen. Nachträge der letzten Woche, Planungen für die nächste. Barbara ist immer anwesend, außer sonntags. Sie ist fleischgewordenes Inventar.
Als Stan und Kandy jedoch an ihr vorbeischlendern, legt sie den Kopf zur Seite. Sie mag Kandy nicht. Kaynee ja, aber dieses billige Flittchen, nach dem sich tatsächlich jeder umdreht – das nicht. Aber würde Sanders nicht sie, Barbara, fragen, in welcher Ausprägung Kaynee gerade durch das Camp läuft, gäbe es überhaupt keine Möglichkeit mit ihm zu sprechen. Babs seufzt.
Währenddessen löst sich Kandy aus Stans Griff. »Das ist nicht der Weg zur Cafeteria«, stellt sie trocken fest und will sich abwenden. »Guter Versuch, Stan.«
Stan erwischt noch ihr rechtes Handgelenk. »Nicht so schnell, kleine Lady. Du hast mir einen Espresso versprochen.« Mit einem Ruck zieht er sie an sich heran, vergräbt sein Gesicht an ihrem Hals, atmet tief ihren Duft ein. Während er sie in der Halsbeuge küsst, führt er ihre rechte Hand an seinen Schritt, der über seinen Zustand Auskunft gibt.
Kandy windet sich aus seinem Griff heraus, befreit ihre Hand. »Du willst es, nicht wahr?«, raunt sie ihm zu. »Mit jeder Faser deines Seins.«
Stan richtet sich auf. »Lass uns zu mir gehen. Es ist alles bereit