Wie die Sonne in der Nacht. Antje Babendererde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Antje Babendererde
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783401807621
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Erde, als befürchte er, ins Bodenlose zu fallen.

      Erschrocken und erleichtert zugleich holte ich Luft und atmete einen Schwall süßlich strengen Salbeigeruch ein. Ich registrierte die blutverkrusteten Schrammen im Gesicht des Jungen – vor allem den bösen, drei Zentimeter langen Riss, der unter dem Haaransatz klaffte, verschmutzt und halb verdeckt von strähnigem Haar. Auch am linken Oberarm hatte er eine blutige, ausgefranste Wunde, ein fingerlanger Graben, der in seinen Muskel schnitt, schwarz an den Rändern.

      Doch viel mehr sorgten mich Verletzungen, die womöglich nicht zu sehen waren. Schnell zückte ich mein Handy, um Hilfe zu holen, bevor ich vielleicht doch noch schlappmachte.

      Die Nummer der Notaufnahme des Krankenhauses von Taos hatte Lucia vorsorglich eingespeichert, bevor sie mir ihr altes Smartphone geschenkt hatte, ohne das ich nicht aus dem Haus gehen durfte. Ich beschrieb, wo ich war, und die Frau von der Rettungsstelle versicherte mir, dass der Krankenwagen in wenigen Minuten da sein würde.

      Als ich das Handy wieder in meine Hosentasche schob, ging es mir schon besser. Gleich würde ich die Verantwortung los sein und nach Hause fahren können. Mit Sicherheit hatte der Junge Schmerzen und stand unter Schock. Vielleicht hatte er innere Verletzungen, aber darum würden sich Ärzte und Sanitäter kümmern. Meine Aufgabe war es jetzt, den armen Kerl zu beruhigen, bis Hilfe kam.

      »Schön so liegen bleiben«, sagte ich, »die Ambulanz ist gleich da.«

      Der Junge, dessen Alter ich nur schwer einschätzen konnte, rührte sich nicht. Ich ging in die Knie und beugte mich über sein dreckverschmiertes Gesicht. Ein schwarzer Blick aus Augen von verwirrender Tiefe traf mich mitten ins Herz. Ich sah weg und schluckte trocken. Dann machte ich einen tiefen Atemzug und begegnete seinem Blick erneut.

      »Cómo estás?«, versuchte ich es auf Spanisch. »Wie geht es dir?« Mein Spanisch war inzwischen ganz passabel, aber meine Frage blieb ohne Reaktion. Vermutlich war er vor Schock unfähig zu sprechen. Sein Blick jedoch, der blieb auf meinen Mund gerichtet wie die Nadel eines Kompasses, die stets nach Norden zeigte. Offensichtlich war es für den jungen Indianer in den letzten Tagen nicht besonders gut gelaufen.

      »Okay«, sagte ich, um irgendetwas zu sagen, »versuch zu blinzeln, wenn du mich verstehst!«

      Der Junge blinzelte, aber vielleicht hatte er ohnehin blinzeln müssen. Hast du Schmerzen?, wollte ich ihn fragen, ließ es aber bleiben. Beruhigen, Mara, nicht noch mehr Angst machen! Das hast du doch im Erste-Hilfe-Kurs gelernt.

      In einer tröstlichen Geste legte ich meine Hand auf seinen linken Unterarm. Als ich ihn berührte, ging ein Ruck durch seinen Körper, und aus seiner Kehle kam ein Laut, der nicht Sprache war. In seine schwarzen Augen, die um so vieles älter wirkten als sein Gesicht, kam Leben. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus. Als er versuchte, sich aufzurichten, legte ich meine Hand sacht auf seine Brust und schüttelte den Kopf.

      »Schön liegen bleiben, okay?«

      Er sank zurück und schloss die Augen, wie um die Wirklichkeit auszublenden. Oder mich.

      Ungeheure Erleichterung überkam mich, als ich die Sirene der Ambulanz hörte und der Taos County-Rettungswagen kurz darauf vor meinem Pick-up hielt. Zwei Sanitäter mit einer Trage und einem Notfallkoffer stiegen aus und kümmerten sich um den Verletzten. Auf ihre besorgten Fragen in Englisch und Spanisch bekamen auch sie keine Antwort. Einer der Sanitäter untersuchte die Hosentaschen des jungen Mannes nach Papieren, doch nada. Nichts. Nur ein schwarzer Stein, den der Sanitäter erst wegwerfen wollte, ihn dann jedoch in die Hosentasche zurücksteckte.

      Vermutlich war der Indianer aus der Gegend und hatte bloß einen kleinen Spaziergang machen wollen, als der Truck ihn umgerissen hatte.

      Als sie den Verletzten auf die Trage hoben, sah ich das rotbraune Tattoo auf der Innenseite seines rechten Unterarmes, dort wo die Haut heller war. Ein Halbmond, eine Hand und ein Stern. Irgendwo hatte ich das schon mal gesehen, wusste aber nicht mehr, wo. Der Indianer hob den Kopf und seine Augen schienen mich zu fragen: Wo bringen sie mich hin? Und: Warum lässt du das zu?

      In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so völlige Verlorenheit gesehen und fühlte mich, als hätte ich soeben einen guten Freund im Stich gelassen, obwohl ich den Jungen nicht mal kannte und auch nicht wusste, was ich hätte anders machen sollen.

      Die Tür der Ambulanz schloss sich und der Wagen fuhr mit Blaulicht davon. Ich stand allein am Straßenrand und die grelle Mittagssonne knallte heiß auf mich herab. Als ich zurück zum Pick-up gehen wollte, funkelte etwas in einem Salbeistrauch, das nicht dorthin gehörte. Ich bückte mich und pflückte es aus den weichen Zweigen. Es war ein silberner, etwa fünf Zentimeter großer Kokopelli – der bucklige Flötenspieler des Südwestens – an einem gerissenen Lederband. Mit Sicherheit gehörte er dem unglücklichen jungen Mann. Ich steckte den Anhänger ein und machte mich auf den Heimweg.

      Zurück in Taos, holte ich mir im La Cueva Café an der Ecke zwei Tamales, doch als ich dann damit am Küchentisch saß, war meine Kehle wie zugeschnürt und ich bekam kaum einen Bissen herunter. Der flehentliche Blick des Indianerjungen ging mir nicht aus dem Kopf.

      Der silberne Kokopelli lag vor mir auf dem Tisch. Dieser Anhänger war alles, was der junge Indianer bei sich gehabt hatte. Ich schob den Teller mit den Tamales zur Seite und nahm den kleinen Flötenspieler in die Hand. Es war eine schöne Silberarbeit und hatte mit Sicherheit eine besondere Bedeutung für den Jungen, war vielleicht sogar eine Art Amulett.

      Meine Neugier war erwacht. Kurz entschlossen stand ich auf, schob den Anhänger in meine Hosentasche und schnappte mir die Autoschlüssel. Ich würde den Kokopelli zu seinem Besitzer bringen und dabei vielleicht etwas mehr über ihn erfahren. Das war allemal besser, als herumzusitzen und Trübsal zu blasen.

      Das Holy Cross Hospital im Westen der Stadt war im Pseudo-Adobe-Stil gebaut worden, pseudo deshalb, weil unter den im Ockerton verputzten Wänden des Flachbaus sich keine luftgetrockneten Ziegel aus Lehm und Stroh verbargen, sondern schnöder grauer Beton – wie bei vielen der neueren Gebäude in der Stadt.

      Ich parkte im Schatten einer Pappel und fragte am Empfang nach dem vor ungefähr einer Stunde eingelieferten jungen Indianer ohne Papiere.

      »Sind Sie seine Freundin?« Die ältere Dame mit der Ponyfrisur musterte mich misstrauisch. Wie ich von David wusste, blieben die Pueblo-Indianer lieber unter sich, und Mrs Lujan – das stand auf ihrem Namensschild – war definitiv eine Indianerin.

      »Ähm, nein, ich … ich habe die Ambulanz gerufen, und als sie mit ihm weg waren, habe ich das hier gefunden.« Ich zeigte ihr den Kokopelli. »Er gehört dem jungen Mann, und bestimmt ist es wichtig für ihn, dass er ihn wiederbekommt.«

      Mrs Lujan hatte offenbar Mitgefühl, deshalb griff sie zum Hörer und telefonierte mit dem zuständigen Arzt.

      »Hier ist eine junge Frau, die will zu Ihrem Mister X, Doktor. Sie sagt, sie hat etwas, das ihm gehört.«

      Der Gesichtsausdruck von Mrs Lujan veränderte sich, während sie dem lauschte, was ihr der Arzt am anderen Ende der Leitung antwortete. Sie bedachte mich mit einem Blick des Bedauerns und mir fuhr ein eisiger Schreck in die Glieder. War der unglückliche junge Mann etwa tot? Meine Hand umklammerte den Kokopelli so fest, dass das Silber mir in die Hand schnitt.

      »Den Gang entlang, bis zur Station 2, junge Frau«, sagte sie. »Fragen Sie nach Dr. Rodriguez.«

      »Was ist denn mit dem Verletzten? Geht es ihm gut?«

      »Ich darf Ihnen leider keine Auskunft geben, aber Dr. Rodriguez wird mit Ihnen sprechen.«

      Im Eilschritt lief ich bis zur Station 2 und fragte nach dem Doktor. Der junge Arzt stand auf dem Gang und erwartete mich bereits.

      »Kommen Sie!«, sagte er und führte mich in sein Dienstzimmer, wo er mir einen Platz anbot. Aber ich blieb lieber stehen. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

      »Sie haben also die Ambulanz gerufen?«

      »Ja. Ich kam mit dem Auto aus Richtung