In der ersten Zeit skypten Nils und ich jeden zweiten Tag, später dann nur noch einmal die Woche. Nach ein paar Monaten in Taos merkte ich, dass zwischen meinem Liebsten und mir nicht nur ein Ozean voller Salzwasser lag, sondern auch ein Meer neuer Eindrücke, Erlebnisse und neuer Sichtweisen.
La Tierra del Encanto – Land of Enchantment, stand auf den Nummernschildern von New Mexico, und das war keine Übertreibung.
»In New Mexico sind Mythen, Legenden und Wirklichkeit alles dasselbe«, hatte Lucia mal zu mir gesagt – und wie sehr das der Wahrheit entsprach, sollte ich bald erfahren.
Ich liebte Taos, die kleine Stadt am Fuße der Sangre de Christo Mountains mit den lehmfarbenen Häusern, den blutroten Chilizöpfen und den dreihundert Sonnentagen im Jahr.
Bei den Elliots fühlte ich mich vom ersten Tag an zu Hause, was vor allem Rosaria und ihrer Mutter zu verdanken war. An meiner neuen Schule in Taos war ich herzlich aufgenommen worden und ich hatte mich von Anfang an nicht ein einziges Mal fehl am Platz gefühlt. Hier lief alles viel entspannter. Ich musste immer noch lachen, wenn ich an meinen ersten Schultag dachte, an dem mich die Lehrerin meiner neuen Klasse mit meinem vollen Namen vorstellte und nach ein paar Sekunden tödlicher Stille plötzlich alle loskicherten.
»Marie-Johanna«, meinte Ronnie Salazar aus der hintersten Reihe, »das klingt ja wie Marihuana.«
Ich mochte meine Klassenkameraden, ihr Sprachengemisch aus Spanisch und Englisch. Ich mochte Taos mit seinen Pueblo-Indianern und den Familien mit hispanischen Wurzeln. Der Rest der Bewohner war ein Sammelsurium aus Künstlern, Hippies, Ökotypen und alternden Filmstars. Im Sommer kamen dann noch die Touristen aus aller Welt dazu.
Ich war sozusagen im Paradies gelandet, und abgesehen davon, dass ich Nils vermisste, war ich rundum glücklich – bis gestern Abend.
Mit Füßen schwer wie Blei stieg ich die Holzstufen hinauf in mein Zimmer und meldete mich auf Skype an. In Deutschland war es jetzt 10 Uhr abends, eine gute Zeit, um Caro vor ihrem Laptop zu erwischen. Der Skype-Klingelton erklang und nach einem leisen Pling! hatte ich meine beste Freundin auf dem Bildschirm. Sie machte ein betont fröhliches Gesicht. »Hey, wie geht es dir?«
»Ich glaub, ich habe mich noch nie so allein gefühlt wie in diesem Augenblick. Vor einer halben Stunde sind sie gefahren.«
»Das wird schon«, versuchte Caro, mich zu trösten. »Das ist nur der erste Schock. Wer weiß, wozu …«
»Caro?«, unterbrach ich sie.
»Ja?«
»Ich muss dich etwas fragen und bitte lüg mich nicht an, okay?«
»Oooookaaaay.«
»Was ist los mit Nils?«
Caro schwieg eine Weile, schließlich sagte sie: »Er hatte wirklich einen Bänderriss und ist heute operiert worden. Die Polizei hat ihn verhört und wahrscheinlich kriegen sie ihn dran wegen der Reifenschlitzerei. Deshalb darf er auch das Land nicht verlassen.«
Mein armer Nils, schoss es mir durch den Kopf.
»Mara, da ist noch etwas.«
»Ja?« Mein Magen zog sich zusammen.
Caro wand sich ein wenig. »Nils … er hat eine andere. Er wollte es dir sagen, aber wie es aussieht, war er zu feige.«
Ich starrte Caro an, oder besser: durch sie hindurch. Tief in meinem Inneren hatte ich eine Vorahnung gehabt, trotzdem fühlte sich auf einmal nicht nur mein Magen, sondern auch mein Herz an wie eingeschnürt. Tränen drängten in meine Augen.
»Verdammter Mistkerl«, stieß ich hervor, »ich hasse ihn!«
Sie nickte. »Er hat es verdient. Nur finde ich, er sollte deinen Hass auch elementar spüren. Aber dafür müsstest du nach Hause kommen.«
»Einen Teufel werd ich tun.«
Caro lachte. »Das ist die Mara, die ich kenne.«
»Wer ist es?« Ich schluckte zweimal. »Kenne ich sie?«
»Glaub nicht. Sie heißt Jenna und ist so eine Ökoemanze vom Roten Berg.«
Ich brachte kein Wort hervor, versuchte, das Gesagte zu verarbeiten.
»Nils hat sich wie ein Arsch benommen und du bist meine beste Freundin. Ich … ich musste dir die Wahrheit sagen.«
»Schon gut. Ich muss das nur erst einmal alles verdauen.«
»Hey, Kopf hoch, Mara, du schaffst das.« Caro machte ein betont aufmunterndes Gesicht. »Versuch es doch mal positiv zu sehen: Niemand, der dir über die Schulter schaut, niemand, der dir reinredet. Du kannst tun und lassen, was du willst.«
Na toll!
»Ich melde mich wieder, okay?« Ich winkte ihr und verließ Skype. Hockte mich mit dem Rücken zur Wand auf mein Bett und starrte auf meinen gepackten Rucksack. Kein Roadtrip mit Nils, keine Nächte im Zelt unter dem irren Sternenhimmel von New Mexico. Ich vermisste diesen Idioten. Vermisste sein Lachen und seine blöden Witze, vermisste seine Küsse.
Es tat weh, aber vor allem war ich wütend auf ihn. Caro hatte recht. Der adrenalinsüchtige Nils war ein Feigling, wenn es um Gefühle ging. Hätte er den Mumm gehabt, ehrlich zu sein, dann würde ich jetzt mit Valerio in der Wildnis von Montana Bäume pflanzen und hätte vielleicht einen prickelnden Sommerflirt. Nils hatte mich nicht nur feige abserviert, er hatte auch all meine Pläne für diesen Sommer und meine Zukunft zunichtegemacht.
Selbst schuld, dachte ich, dabei flossen ein paar verzweifelte Tränen. Aber dann gab ich mir einen Ruck und beschloss, mich nicht dem Selbstmitleid zu ergeben.
Ich zog meinen Bikini an und cremte mich mit Sonnenschutz ein. Das Taos-Plateau lag zweitausend Meter über dem Meeresspiegel und als Bleichgesicht bekam man hier schnell einen Sonnenbrand. In den ersten Tagen in Taos hatte ich ständig eine trockene Nase und häufig Nasenbluten gehabt, was von der Höhenlage kam. Inzwischen hatte sich mein Körper daran gewöhnt, doch vor der Sonne musste ich mich in Acht nehmen.
Ich legte mich auf eine Liege im Garten. An meiner goldenen Bräune hatte ich lange gearbeitet, sie sollte kaschieren, dass ich in den letzten zehn Monaten drei Kilo zugelegt hatte, woran Lucias unübertreffliche Kochkünste schuld waren. Um die überflüssigen Pfunde vor Nils’ Ankunft wieder loszuwerden und für die Bergwanderung fit zu sein, hatte ich sogar begonnen zu joggen. Rosaria, mit dunklem Teint und mollig wie ihre Mutter, hatte mich ständig deswegen aufgezogen.
Schon bald wurde mir zu heiß in der Sonne. Ich holte mir einen Eistee, meine Lieblingsschokoladenkekse (jetzt war auch schon alles egal) und mein Buch und zog damit in den Schatten der großen Ulme um. Der Garten der Elliots war eine von einer hohen Adobe-Mauer umgebene Oase und Lucias ganzer Stolz. Es blühte in allen Farben. Weißer Flieder, Strauchrosen, Kornblumen von Weiß über Rosafarben bis zu tiefem Blau und knallig rote Mohnblumen mit Blüten so groß wie Hände. Weiter hinten lag Lucias Gemüsegarten, wo sie auf kleinen Beeten Bohnen, Tomaten, Chili und verschiedene Kräuter anbaute.
Auf der Terrasse, die halb vom Balkon vor meinem Zimmer überdacht war, standen Terrakottatöpfe mit roten Pelargonien und großen, stachligen Kakteen. Das Adobe-Haus der Elliots war uralt und seit Generationen im Besitz von Lucias Familie, die Nachfahren der ersten spanischen Siedler in dieser Gegend waren. Die beiden dicken, mit Schnitzereien verzierten Säulen, die den Balkon stützten, waren an die dreihundert Jahre alt, genauso wie die Adobe-Ziegel, aus denen das Haus gebaut war.
Diese Ziegel bestanden aus Lehm und Stroh und waren nicht gebrannt, sondern schlicht an der Luft getrocknet worden. Die Mauerwände waren dick mit Lehm verputzt und hielten ewig, wenn man den Verputz regelmäßig erneuerte.
Ich liebte das Haus und den Garten, und der Gedanke, in ein paar Wochen für immer nach Deutschland zurückzukehren, trübte meine Stimmung noch mehr.
Schließlich tauchte Zambo in den Zweigen der