»Sie kommen zu spät«, sagte Dr. Rodriguez. »Vor zehn Minuten …«
»Nein«, stieß ich hervor und meine Kehle wurde eng. Nun ließ ich mich doch auf den Plastikstuhl sinken. Das war alles ein bisschen viel auf einmal.
»Keine Panik, Miss …?«
»Mara. Mara Vogel.«
»Dem jungen Mann geht es gut, Miss Vogel«, sagte der Arzt. »Vor zehn Minuten war ich noch bei ihm, doch nun ist er weg.«
»Weg?« Ruckartig sah ich auf.
»Ja. Ich habe ihn untersucht und ihm eine Tetanusimpfung verpasst. Aber als die Schwester seine Wunden verbinden wollte, ist er auf und davon. Übrigens stammte keine seiner Verletzungen von einem Zusammenstoß mit einem Truck.«
»Nicht?«, fragte ich verwirrt.
»Die Wunden waren schon ein oder zwei Tage alt.« Er sah mich an. »Miss Vogel, als Arzt bin ich verpflichtet, Schusswunden zu melden. Ich war gerade auf dem Weg in mein Büro und wollte den Sheriff anrufen, als ich aufgehalten wurde. Dann meldete mir die Schwester, dass der Patient verschwunden sei, und nun sind Sie hier, mit diesem Kokopelli.«
»Eine Schusswunde?« Ich verstand überhaupt nichts mehr.
»Die Verletzung an seinem Arm ist ein Streifschuss. Und er hat am ganzen Körper Prellungen und Abschürfungen, aber es sind nur oberflächliche Wunden. Er schien mir ein wenig unterernährt und seltsam, ansonsten jedoch kerngesund.«
Ich nickte, obwohl ich immer noch nichts verstand. »Haben Sie herausgefunden, wie er heißt und wo er herkommt?«
»Bedauerlicherweise nicht. Weder die Schwester noch ich konnten ihn zum Sprechen bewegen. Er hat uns bloß angestarrt mit seinen dunklen Augen, als wären wir böse Geister. Er war uns fast ein bisschen unheimlich.«
»Haben Sie ihn der Polizei gemeldet?«
»Ich habe dem Sheriff eine Personenbeschreibung gegeben und er will die Augen offen halten.« Dr. Rodriguez erhob sich und ich ebenfalls. Er reichte mir seine Hand. »Es ehrt Sie, dass Sie hergekommen sind, um dem jungen Mann sein Amulett zu bringen, aber wer immer er auch ist, er ist nicht mehr hier. Behalten Sie das Ding, es scheint mir ein besonders seltenes Stück zu sein. Vielleicht bringt es Ihnen ja mehr Glück als ihm.«
Als die Hitze am Abend endlich nachließ, zupfte ich eine Stunde lang Unkraut in Lucias Gemüsegarten und wässerte später alle Pflanzen. Danach duschte ich und setzte mich mit einem Sandwich, einem Glas O-Saft und meinem Buch auf den kleinen Balkon vor meinem Zimmer und legte die Füße auf die lehmverputzte Brüstung.
Der Roman, den ich gerade las, hieß Arroyo und erzählte von Willie Lee, einer Bluessängerin, die ihre Stimme verloren hatte und die auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit in eine kleine Stadt in New Mexico kam. Willi Lee hatte rotes Haar, so wie ich. Die Autorin, Summer Wood, lebte hier ganz in der Nähe, in San Christobal, und Lucia hatte mir erzählt, dass sie mit ihr zur Schule gegangen war.
Mir gefiel Woods geradliniger, schnörkelloser Schreibstil, wie sie es auf ganz besondere Weise schaffte, mit Worten Gefühle und Stimmungen zu erzeugen. Überhaupt hatte ich festgestellt, dass Englisch eine wunderbar ausdrucksreiche Sprache war, deshalb führte ich, seit ich in Taos war, mein Tagebuch auf Englisch, um mich besser darin ausdrücken zu können. Wie dem auch sei: In den nächsten vier Wochen würde ich vermutlich mehr Zeit mit Schreiben als mit anderen Dingen verbringen.
Heute habe ich einen verletzten Indianerjungen am Straßenrand gefunden, schrieb ich in mein Tagebuch. Er hat nicht gesprochen und ist später aus dem Krankenhaus abgehauen. Ich habe etwas von ihm, das er verloren hat, einen silbernen Kokopelli. Wenn ich den Anhänger in der Hand halte, habe ich das Gefühl, er will mir eine Geschichte erzählen.
Es ist kurz nach acht, die Sonne geht gerade unter und die Hügelkette der Sangre de Christo Mountains erglüht in jenem blutroten Licht, dem sie ihren Namen zu verdanken hat: Berge vom Blut Christi.
Es ist meine zweite Nacht allein im Haus, sechsundzwanzig weitere werden folgen. Unfassbar viele. Ich hasse dich, Nils. Ich vermisse dich, du Blödmann.
Sobald die Sonne fort war, wurde es zu kühl auf meinem Balkon und ich verzog mich nach drinnen. Ich schrieb eine lange Mail an Nils, schickte sie jedoch nicht ab.
Dann löschte ich das Licht und versuchte zu schlafen.
In der Nacht geisterte der junge Indianer durch meine Träume und seine schwarzen Augen baten mich um Hilfe. Wir standen einander gegenüber und ich hielt den silbernen Kokopelli in der Hand. Er streckte seine Finger danach aus, doch bevor sie danach greifen konnten, teilte sich der Boden zu unseren Füßen und ein dunkler Abgrund tat sich auf. Der Anhänger glitt mir aus der Hand und fiel – und der Junge stürzte mit wehendem Haar hinterher. Nein!, wollte ich schreien, doch kein Laut kam aus meiner Kehle.
Plötzlich zerriss ein schauriges, nicht menschliches Gelächter meinen Traum und ich schreckte aus dem Schlaf. Kalter Schweiß bedeckte meine Haut, sie kribbelte, als liefen tausend Ameisen über mich hinweg. Mein Mund war trocken wie ein ausgedörrtes Bachbett und der Geschmack von rotem Staub lag auf meiner Zunge. So intensiv hatte ich lange nicht mehr geträumt.
1:20, sagte die Leuchtanzeige des Radioweckers auf dem Nachttisch. Ein ferner Donnerschlag und dann langsames Grollen – es gewitterte mal wieder in den Bergen. Immer nur dort, nie hier unten in der Ebene. Mai und Juni waren Trockenzeit, erst im Juli begannen die nachmittäglichen Monsunregen, die die Hochwüste zum Leben erwecken würden.
Ich stand auf, tappte zur offenen Balkontür und trat hinaus. Gleich hinter der Gartenmauer der Elliots begann die silbern schimmernde Salbeiwüste, die sich bis zu den Ausläufern der Berge zog. Das samtene Nachtblau des Himmels wurde von violetten Blitzen zerrissen, die sich wie ein Netz über den hohen Bergkuppen spannten.
Unten, im Garten, klapperte etwas. Vermutlich Pilgrim, der rot getigerte Streuner, der sich zu seinem Nachtmahl eingefunden hatte. Ich beugte mich über die Lehmmauer, sah Bäume, Sträucher, Schatten – sonst nichts.
Aus der Dunkelheit erscholl erneut das wilde Gelächter. Ich wusste, was das war. Dieses Bellen, Jaulen und Wimmern kam von einem Rudel Kojoten, das auf der Jagd war. Der Sound der Wüste, wie Rosaria das Geheul nannte.
Plötzlich drang von drinnen ein Klappern an mein Ohr und ich horchte auf. War Pilgrim etwa ins Haus gelangt? Manchmal kam es vor, dass der Kater hineinschlüpfte und sich irgendwo ein gemütliches Plätzchen suchte, wo er unbehelligt schlafen konnte. Aber ich hatte ihn doch gerade erst im Garten gehört …
Ich ging wieder hinein, lauschte durch die offene Zimmertür auf den Flur hinaus und nahm einen seltsamen, herben Geruch wahr, den ich nicht einordnen konnte. Ich rief nach dem Kater, bekam jedoch keine Antwort, dafür war er viel zu clever. Und warum sollte er nicht eine gemütliche Nacht unten auf der Couch verbringen, in Sicherheit vor den Kojoten? Lucia mochte es nicht, wenn Pilgrim im Haus war, aber Lucia war nicht da.
Die Tür zu meinem Zimmer stand ohnehin offen, also konnte er über den Balkon nach draußen, wenn er das wollte. Um meinen Durst zu löschen, ging ich ins Bad und trank ein paar Schlucke aus dem Wasserhahn. Auf dem Spiegel über dem Waschbecken war neben Rosarias rotem Kussmund der deutliche Abdruck einer Hand zu sehen. War ich das gewesen? Ich hielt meine Hand gegen den Spiegel, aber der Abdruck war größer und Rosaria hatte kleinere Hände als ich.
Spooky, dachte ich, und El Coco, der Schwarze Mann, der unfolgsame Kinder holte, kam mir in den Sinn. Lucia hatte mir von vientos – bösen Winden, von el mal ojo – dem bösen Blick, und el llorana – der weinenden Frau, die man manchmal in der Nacht hören konnte, erzählt. Geschichten über Geister, böse Zauberer und Hexerei, die im Tal des Rio Grande seit Hunderten von Jahren die Runde machten.
Normalerweise war ich für Übernatürliches nicht empfänglich, denn meine Eltern hatten mir von klein auf eingetrichtert, dass es für jegliches Phänomen eine natürliche Erklärung gab. Und die Erklärung für