Ich würde meine Herzensschwester furchtbar vermissen – und nicht nur sie. Noch eine halbe Stunde, dann stieg meine Gastfamilie in ihren weißen SUV, um nach Albuquerque zum Flughafen zu fahren. Noch dreißig Minuten, und ich würde allein in dem großen Adobe-Haus am Stadtrand von Taos sein, das mir während der vergangenen zehneinhalb Monate zu einem Zuhause geworden war.
Meine Gasteltern David und Lucia Elliot und ihre Tochter Rosaria brachen zu einer vierwöchigen Reise nach Frankreich auf. Vier Wochen, in denen sie Sehenswürdigkeiten abklappern und auf die Suche nach einer passenden Uni für Rosaria gehen wollten. Unterdessen würde ich das Haus hüten. Auf diese Zeit hatte ich mich wie verrückt gefreut, denn ursprünglich hätte Nils kommen sollen, mein Liebster mit den kornblumenblauen Augen, den verrückten Ideen und den unumstößlichen Grundsätzen. Nils, dem ich zehn Monate lang treu geblieben war, obwohl es da einen Jungen auf der Highschool von Taos gegeben hatte, der mir das Treubleiben nicht leicht gemacht hatte.
Dass Nils, der eigentlich in drei Tagen aus Deutschland eintreffen sollte, nicht kommen würde, wusste ich erst seit gestern Abend. Ein Bänderriss am Knöchel (vermutlich war er mal wieder vor der Polizei davongerannt), eine anstehende Operation, sein Flug war bereits storniert. Am Telefon hatte Nils eine Menge traurige Worte gefunden, doch ich kannte seine Stimme. In ihr hatte nicht das geringste Bedauern gelegen, und ich ahnte, dass er mir nur die halbe Wahrheit erzählt hatte.
Dass mein Freund nicht kommen würde, hatte ich den Elliots verschwiegen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machten um mich – und dem Housesitter vielleicht noch einen Babysitter verpassten. Aber es war gar nicht so einfach, ein fröhliches Gesicht zur Schau zu tragen, wenn einem innerlich zum Heulen war.
Die aufgeregten Stimmen von David, Lucia und Rosaria flogen durchs Haus. Ich hörte das Klacken der Rollkoffer, als sie über den Fliesenboden im Erdgeschoss zur Tür gezogen wurden. Ich wünschte, meine Gastfamilie würde nicht verreisen und alles so bleiben, wie es immer war. Gleichzeitig wünschte ich, sie wären endlich fort, damit ich mich nicht mehr verstellen musste.
»Mara!«, rief es schließlich dreistimmig.
»Ich komme.« Ich eilte die Treppe hinunter. In der großen Wohnküche duftete es nach Lucias Zimtbrötchen, von denen sie extra für mich noch einen Vorrat gebacken hatte. Draußen stach die Sonne unbarmherzig vom strahlend blauen Himmel. David verstaute den letzten Koffer im Wagen. Lucia, klein und mollig, umarmte mich fest. »Der Zettel mit allen wichtigen Telefonnummern liegt auf dem Küchentisch. Hab viel Spaß mit deinem Nils, chamaca. Und gib Josefita Bescheid, bevor ihr beiden auf Reisen geht.«
Ich nickte. Die Tränen kamen, ich konnte nichts dagegen tun. Es kam nicht oft vor, dass ich heulte, aber dieser Abschied machte mich echt fertig. Die Elliots waren die besten Gasteltern, die ich mir denken konnte, und ich vermisste sie jetzt schon.
»Hasta luego, Süße«, flüsterte mir Rosaria ins Ohr, die mich als Nächste in die Arme schloss. »Treib es nicht zu wild, hörst du!«
Ich nickte wieder. Heulend. Lächelnd.
Gestern Abend war unser Abschiedsessen im Doc Martin’s gewesen, dem angesagtesten Restaurant in Taos, mit den rauen Lehmwänden, den türkisfarbenen Stühlen und den köstlichsten Chiligerichten. Alles war tausendmal besprochen, alle Einzelheiten geklärt. Die Elliots vertrauten mir für vier Wochen ihr Heim an, während meine Mutter mir nicht mal zugetraut hatte, ein Wochenende alleine zu Hause zu verbringen, ohne dass ihrer kostbaren Eigentumswohnung Schaden zugefügt wurde.
David, blond und bärtig, schlug die Heckklappe zu und umarmte mich als Letzter. »Wir sehen uns in vier Wochen, Mara. Pass gut auf meine Schätze auf!«
David lehrte als Professor der Archäologie am Fort Burgwin Center und das Adobe-Haus der Elliots war ein halbes Museum für indianische Artefakte der Indianerkulturen des Südwestens.
Ich nickte zum dritten Mal. »Adios«, war alles, was ich noch hervorbrachte. Dann klappten die Türen. Ich winkte und zwei Minuten später verschwand der SUV aus der Einfahrt. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, schloss das zweiflügelige hölzerne Tor und schleppte mich nach drinnen.
Die plötzliche Stille im Haus empfing mich wie ein Tritt in die Magengrube. Allein. Für vier lange Wochen. In meinem ganzen Leben war ich noch nie länger als einen Tag alleine gewesen, und bereits nach einer halben Stunde wurde mir klar, dass ich nicht fürs Alleinsein geschaffen war. Und zwar überhaupt nicht. Ich brauchte Menschen um mich, wenigstens einen Menschen, sonst wurde ich trübsinnig, gaga, loco.
Die Hälfte meiner Klassenkameraden aus der Taos Highschool war jetzt in einem Ökocamp in Montana und forstete den Wald auf, der Rest war mit seinen Eltern verreist. Ich hätte auch in diesem Camp sein können – zusammen mit Valerio, dem Jungen, der Gedichte über meine roten Haare geschrieben hatte und den ich sehr mochte. Doch ich hatte mich fürs Haushüten entschieden – und fürs Treubleiben.
Vor einem halben Jahr hatte ich Nils vorgeschlagen, nach New Mexico zu kommen. Feuer und Flamme war er gewesen, als er hörte, dass ich einen Führerschein hatte und die Elliots mir erlaubten, ihren Pick-up zu fahren. Nils wollte die Earthship Community von Taos sehen, Häuser, die aus Autoreifen gebaut waren und ausschließlich mit Wind- und Solarenergie betrieben wurden. Außerdem wollte er nach Los Alamos, wo die Atombombe entwickelt worden war, und nach White Sands, wo man 1945 den ersten oberirdischen Kernwaffentest durchgeführt hatte. Zwei Orte, die Nils mit eigenen Augen sehen wollte, um seine feurige Verachtung über sie auszuschütten.
Wir hatten geplant, gleich zwei oder drei Tage nach seiner Ankunft aufzubrechen. Mein Rucksack stand schon seit zwei Wochen fertig gepackt in meinem Zimmer.
Nils war ein Naturfreak, ein Ökokämpfer, und mein erster richtiger Freund. Von seiner Mutter, einer Schwedin, hatte er die blauen Augen und die blonden Haare geerbt. Alles an ihm war hell, bis auf die bunten Tattoos, die seinen blassen Körper zierten.
Wochenlang hatte ich mich gefragt, wie er ausgerechnet auf mich gekommen war – woher er gewusst haben konnte, wie satt ich es hatte: dieses ständige Gefühl, etwas zu versäumen und nur in meinen erdachten Geschichten zu leben.
Mein Vater war Redakteur bei einer Thüringer Tageszeitung und meine Mutter arbeitete seit einer gefühlten Ewigkeit an ihrer politischen Karriere im Thüringer Landtag. Beide waren beruflich sehr eingespannt, sodass ich mehr Zeit im Garten meiner Oma Inge verbrachte als zu Hause mit meinen Eltern. Ich war ein Schlüsselkind und kannte es nicht anders.
Praktischerweise war ich eins von den braven kleinen Mädchen, die niemals Ärger machten. Auch als ich älter wurde, änderte sich daran wenig: Ich trug einen langweiligen Namen (Marie-Johanna), langweilige Klamotten, war eine Musterschülerin und abends immer vor zehn zu Hause. Wilde Geschichten schreiben (in denen ich die Hauptrolle spielte) und gärtnern waren meine liebsten Hobbys. Fazit: Strebernoten und mit fünfzehn noch ungeküsst.
Doch so brav ich auch nach außen wirkte, in meinem Inneren sah es anders aus. Da brodelte etwas, war kurz davor, überzukochen. Ich wollte etwas Verrücktes tun, nach meinen eigenen Vorstellungen leben.
Oma Inge, die seit der Wende die Grünen wählte, hatte mir von klein auf ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein mitgegeben. Ich war fest davon überzeugt, die Welt ein wenig besser zu machen, wenn ich keinen Müll auf der Straße fallen ließ, beim Einkaufen den Plastikbeutel ablehnte, kein Fleisch aß, auf Schminke verzichtete und nicht jeden Tag duschte.
Schon Anfang August jeden Jahres waren die natürlichen Ressourcen unseres Planeten durch uns Menschen aufgebraucht. Wir nahmen der Erde mehr weg, als sie uns geben und nachproduzieren konnte. Grenzenlose Raffgier zerstörte unsere Umwelt und brachte Armut, Elend und Tod. Wir betrachteten die Natur als alles schluckende Müllkippe, manipulierten Saatgut, schlachteten Tiere im Akkord, fischten die Weltmeere leer, holzten überall auf der Welt die Wälder ab – und kaum jemand kümmerte sich um die, die dabei auf der Strecke blieben.
Ich wollte nicht in den Tag hineinleben, wollte etwas ändern, das nur ich ändern konnte – und nicht nur Eier von freilaufenden Hühnern essen oder Geld für die Hungerhilfe spenden, wie meine Mutter das