Wie die Sonne in der Nacht. Antje Babendererde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Antje Babendererde
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783401807621
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zu Tode, wenn pausenlos von den angesagtesten Klamotten, den ultimativsten Smartphones und den süßesten Jungs die Rede war. Und ich langweilte die anderen mit meinen Weltverbesserungstheorien.

      Sogar meine beste Freundin Caro verdrehte die Augen, wenn ich versuchte, ihr etwas über Tierversuche und Konsumidiotie zu erzählen, um sie davon abzubringen, Lippenstift und Makeup zu benutzen. Sie war der Meinung, ihre Augen wären zu klein und nur Eyeliner könne diesen Makel beheben.

      Als Nils an unser Gymnasium kam, ging ich in die Zehn und er in die Elf. Caro hatte ihn zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen, und nach einer Weile merkte ich, dass dieser charismatische Junge immer dort war, wo auch ich war. Irgendwann tanzten wir zusammen, und wenn Nils mich ansah mit seinen durchdringenden blauen Augen, lächelte er amüsiert. Die einzige Erklärung, die mir dazu einfiel, war, dass er wahrscheinlich mit seinen Freunden irgendeine blöde Wette abgeschlossen hatte: Kriege ich die kleine Rothaarige heute Abend ins Bett, schuldet ihr mir einen Kasten Bier – oder so etwas in der Art.

      Also war ich auf der Hut. Als Nils mich küsste, bedauerte ich, auf der Hut sein zu müssen, denn sein Kuss war schön und machte Lust auf mehr. Er fuhr mit den Fingern in mein widerspenstiges Haar und flüsterte an meinem Ohr: »Ein roter Pelz reicht nicht allein, ein bisschen Fuchs musst du schon sein.«

      Nils hatte keine Wette abgeschlossen. Und sein Spruch, der ging mir nicht mehr aus dem Kopf – genauso wenig wie sein Kuss. Nils war eine Art Initialzündung für mich – in jeglicher Hinsicht. Zwei Monate später hatte ich ein kleines rotbraunes Fuchstattoo über der linken Brust, nannte mich Mara und war keine Jungfrau mehr. Ich kleidete mich nachlässig, trug ein Nasenpiercing und sagte laut, was ich dachte.

      »Sich zu entstellen, ist das Vorrecht der Jugend«, kommentierte Pa amüsiert meine äußerliche Verwandlung.

      Meine Mutter fand das Ganze gar nicht lustig. Es würde ihrer politischen Karriere schaden, wenn ihre Tochter so in der Stadt herumlief. Ma bekam einen hysterischen Anfall, als sie das Tattoo entdeckte, nannte es einen bleibenden Schaden, denn jede andere Dummheit, die ich mal getan hatte, war für sie nichts weiter als eine Phase gewesen.

      Nur mit einer ganzen Reihe von Versprechungen konnte ich sie davon abhalten, den Freund von Nils’ Mutter anzuzeigen, dem das Tattoostudio gehörte, wo es entstanden war. Dabei war der kleine stilisierte Fuchs wirklich schön, den Nils für mich nach langer Suche im Internet gefunden hatte.

      Auch den Namen Mara hatte er für mich gefunden. Alle dachten, er wäre bloß eine Abkürzung für Marie-Johanna, aber Nils hatte mir aufgezählt, was der Name bei den verschiedenen Völkern bedeutete. Meer auf Gälisch und auf Hebräisch bittersüß. In Weißrussland bedeutete Mara Traum und in Nigeria schön. Auf Syrisch und Maltesisch bedeutete es Frau.

      Nils nannte mich seine schöne Meerestraumfrau.

      Ich war rettungslos verknallt, aber Ma konnte Nils nicht leiden. Sie machte ihn für alles verantwortlich, was ihr an mir nicht passte. Und das war eine Menge. Dabei hatte sie nicht die geringste Ahnung, was ich so trieb, wenn ich vorgab, bei Caro oder Oma Inge zu sein.

      Meine Oma war vergesslich geworden, das machte mir das Herz schwer, aber manchmal war es auch von Vorteil. Oma Inge mochte Nils nämlich, und wir besuchten sie oft in ihrem kleinen Haus am Stadtrand, in dem sie seit dem Tod meines Opas alleine lebte. Wir kauften für sie ein, machten sauber und halfen ihr im Garten. Unkraut jäten, den Kompost wenden, Laub zusammenrechen. Na ja, ich half gerne, und Nils tat es mir zuliebe, denn Gartenarbeit war eigentlich nicht sein Ding, auch wenn er das vor mir nicht zugab.

      Wenn Ma dann nachfragte, wusste Oma Inge später oft nicht mehr, ob wir nun an einem bestimmten Tag da gewesen waren oder nicht. Manchmal schlichen wir in der Nacht durch die Straßen der Stadt und sprühten Sprüche an die Hauswände wie etwa: GEN-DRECK WEG! Oder: ES GIBT KEINE UNSCHULDIGEN.

      Wir rannten oft um die Wette, um das Weglaufen zu üben, und Nils schleifte mich in eine Kletterhalle, um das Wegklettern zu lernen. Sport war nicht unbedingt mein Lieblingsfach, aber nun kam ich in Form und bekam Muskeln in den Waden und Armen.

      Ich schrieb keine wilden Geschichten mehr, denn ich spielte die Hauptrolle in Nils’ Leben und für etwas anderes blieb kaum noch Zeit. Wir klebten Plakate gegen TTIP und CETA, die geplanten Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada. Ein Thema, über das ich hitzige Diskussionen mit meiner Mutter führte, wenn sie denn mal da war und nicht zu gestresst, um mit mir zu reden.

      »Marie-Johanna«, sagte sie, »diese Abkommen sind notwendig, um Arbeitsplätze zu schaffen und das Wirtschaftswachstum zu fördern.«

      »Alles gequirlte Scheiße«, ereiferte sich Nils, wenn ich ihm die Argumente meiner Mutter darlegte. »Ist doch klar, dass wieder nur die großen Konzerne von diesen Abkommen profitieren werden. Die Folgen sind ungehemmtes Wirtschaftswachstum und eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Die Scheißkapitalisten kapieren einfach nicht, dass man einem toten Planeten keinen Profit mehr abringen kann. Ich habe echt keine Lust, mich von der Politik weiter verarschen zu lassen.«

      Sagte er zur Tochter einer Politikerin.

      Nils stellte alles infrage, sogar sich selbst. Nach und nach griff er zu immer radikaleren Mitteln, um auf die Zerstörung der Erde aufmerksam zu machen. Und mit seiner Leidenschaft, mit der er alles anging, was ihm in den Kopf kam, schaffte er es, mich von der Notwendigkeit seiner Aktionen zu überzeugen.

      »Die Leute werden anfangen nachzudenken, ob sie wollen oder nicht«, argumentierte er.

      Wir zogen also mit Schraubenziehern los und zerstachen Autoreifen – was nicht so leicht war, wie es sich anhört. Am Morgen fanden die verärgerten Autofahrer dann einen Handzettel unter dem Scheibenwischer, auf dem stand: GEGEN DIE ÜBERMACHT DER AUTOS.

      Meine Noten sackten in den Keller, denn ich hatte anderes zu tun, als Punkte zu zählen. Gute Noten, gutes Abi, erfolgreiches Studium, super Job, gutes Geld und Sicherheit waren längst keine Option mehr für mich. Ma und ich stritten oft, weil ich keine Lust mehr hatte, ihre Erwartungen zu erfüllen. Aber meistens hörte Ma mir gar nicht richtig zu. Sie hatte andere Probleme. Probleme, die bald auch mich betrafen und unsere heile Familienwelt wie ein Kartenhaus zusammenfallen ließen.

      Durch einen blöden Zufall flog nämlich auf, dass mein Vater seit Monaten eine Freundin hatte. Sie war erst sechsundzwanzig und von ihm schwanger. Ich hatte mich schon ein wenig darüber gewundert, als er sich auf einmal ein Hipster-Outfit zulegte, dachte aber, die Midlife-Crisis hätte ihn gepackt und es wäre nur eine Phase.

      Okay, Ma hatte wenig Zeit für uns, oft war ihr die Politik wichtiger. Meistens hastete sie von einem Termin zum anderen und trug dabei irgendwelche strengen Kostüme, die sie seriös aussehen ließen. Pa und ich mochten sie in Jeans und T-Shirt, doch darin sahen wir sie nur noch selten.

      Aber musste er deshalb gleich unser ganzes Leben über den Haufen werfen?

      Im Grunde wollte ich doch nur, dass alles gut wurde – für jeden auf der Welt. Natürlich auch für Oma Inge, meine Eltern und mich. Aber so funktionierte das Leben nun mal nicht: Irgendwer blieb immer auf der Strecke. In diesem Fall war ich das. Jegliche Versöhnungsversuche blieben erfolglos, meine Eltern reichten die Scheidung ein. Und da ich zu dem Ganzen einen klaren Standpunkt hatte, blieb ich bei meiner Mutter und wir machten uns weiterhin gegenseitig Stress.

      Schließlich wurden Nils und ich in einer Nacht in flagranti beim Sprayen erwischt. Ma rastete aus. Aber da die Polizei uns nur die Sprayerei nachweisen konnte und nicht die Sachbeschädigung an den Autos, kamen wir mit Arbeitsstunden davon, die wir in einem Tierheim ableisteten.

      Mein Vater versuchte, die Wogen zu glätten, und hielt Ma einen Vortrag über die Notwendigkeit von Protestverhalten, das jungen Menschen dabei half, ihre Identität zu finden. »Marie-Johanna ist gerade in ihrer Katastrophenphase und die geht vorbei«, sagte er. Aber davon wollte meine Mutter nichts hören und strafte mich zusätzlich mit Hausarrest.

      Wir waren wohl alle schwer erleichtert, als ich im August vergangenen Jahres in den Flieger nach Albuquerque, New Mexico stieg. Obwohl mir der Abschied von Nils und meiner vergesslichen