Mit zitternden Knien ging ich um den Couchtisch herum auf ihn zu. Da trat er einen Schritt zurück, dann noch einen. Panik im Blick, als wäre ich ihm nicht geheuer. Als könnte ich ihm etwas tun. Das war nicht, was ich erwartet hatte. Ganz und gar nicht.
Ich vergaß, mich vor ihm zu fürchten. Beschwichtigend hob ich die Hände. »Was … was machst du denn hier? Und wer bist du überhaupt?«
Der Junge sah mich an, als wäre er gerade vom Mond gefallen und hatte keine Ahnung, auf welchem Planeten er gelandet war.
»Ich heiße Mara«, versuchte ich es. »Und wie ist dein Name?«
Er schluckte und seine Lippen bewegten sich, offenbar in einem verzweifelten Versuch, Worte zu formen. Er hatte schiefe, aber weiße Zähne und ihm fehlte ein winziges Stück Schneidezahn. Sein Blick wirkte unstet, als hätte er Mühe, mich direkt anzusehen.
»Schon gut«, sagte ich und machte noch zwei Schritte auf ihn zu. Er war nur einen halben Kopf größer als ich, das machte mir Mut und ich streckte die Hand aus. »Gib mir die Maske, okay? Sie ist sehr wertvoll und gehört David. Er macht mich zur Schnecke, wenn sie beschädigt wird.«
Mit einer unerwarteten Selbstverständlichkeit reichte der Indianer mir die Maske. Ich nahm sie und brachte sie zum Küchentisch, wo ich sie ablegte.
»So«, sagte ich, während ich mich wieder zu ihm umdrehte, »und nun kannst du mir vielleicht sagen, wie du hierher und ins Haus … ähm … gekommen bist.« Ich redete ins Leere. Mein ungebetener Gast hatte sich in Luft aufgelöst. Verblüfft ließ ich meinen Blick über die Couch, die Sessel, den Gang schweifen und lauschte. Nichts. Als hätte ich mir das Ganze nur eingebildet.
»Du kannst wieder rauskommen«, rief ich. »Ich tue dir nichts.«
Nachdem meine Worte unbeantwortet verklungen waren, musste ich lachen.
Ich lachte immer, wenn es schlimm wurde.
Dann sah ich die angelehnte Verandatür und schloss sie. Eine Reihe neuer Fragen jagte durch meinen Kopf: Was hatte der Junge die ganze Zeit im Haus gemacht? Was hatte er gesehen – von mir gesehen? Vermutlich mehr als genug und der Gedanke daran ließ meine Kopfhaut prickeln. Zwar hatte ich ein entspanntes Verhältnis zu meinem eigenen Körper und prüde war ich auch nicht, aber in den eigenen vier Wänden heimlich von einem Wild-fremden beobachtet zu werden, der vielleicht einen Dachschaden hatte, war eine ganz andere Nummer.
Ich ließ mich auf die Couch sinken, nahm mein Smartphone zur Hand und starrte auf die eingespeicherte Nummer der Polizei. Ich konnte sie wählen und in ein paar Minuten würden die Cops hier sein und das Haus auf den Kopf stellen. Aber dann würden sie die Elliots informieren und meine Eltern. Das hätte zur Folge, dass ich spätestens übermorgen in einem Flieger nach Deutschland sitzen würde oder die Elliots in einem Flieger nach Albuquerque.
Beides war keine Option. Außerdem war der seltsame junge Mann vermutlich längst über alle Berge.
Ganz sicher konnte ich mir da natürlich nicht sein. Ich drehte eine Runde durchs Haus und prüfte alle Türen. Dabei entdeckte ich, dass die Glastür, die vom Gästezimmer in den Garten führte, nicht verschlossen war. Vermutlich war er hier ein- und ausgegangen.
War er auch jetzt zur Verandatür hinaus- und hier wieder hereingeschlüpft? Vielleicht versteckte er sich ja irgendwo im Haus. Möglich war es. Er konnte überall und nirgends sein, aber ich hatte meine Entscheidung bereits gefällt. Also ging ich nach oben, putzte Zähne und verschanzte mich in meinem Zimmer.
Lucia hatte mir für meine Joggingrunden eine kleine Dose Pfefferspray gekauft, damit ich mich im Notfall gegen streunende Hunde erwehren könnte. Die deponierte ich greifbar auf meinem Nachtschrank.
Der Kuli in meiner Hand zitterte ein wenig, als ich in mein Tagebuch schrieb.
4. Juni
Mit Ronnie Salazar Pizza essen und in der Adobe Bar gewesen. Wir haben uns geküsst, aber dann wollte er gleich alles. Der Indianerjunge, den ich gestern verletzt an der Straße fand, hat mich vor Ronnies Zudringlichkeit bewahrt. Er muss die ganze Zeit über im Haus gewesen sein – wie ein Geist. Ich habe nicht die Polizei gerufen. Und nun frage ich mich, ob ich das auch dann nicht getan hätte, wenn mein ungebetener Gast alt und hässlich gewesen wäre.
Vielleicht ist er noch da und der Gedanke sollte mir Angst machen, aber das tut er nicht. Es schien, als ob der Junge geradewegs einer meiner Geschichten entsprungen und nur Produkt meiner Fantasie war.
Eine Weile lag ich noch wach und lauschte auf Geräusche, die vielleicht von ihm stammen konnten. Ich nahm mir vor, nur ja nicht einzuschlafen – und schlief auf der Stelle ein.
Rabengekrächz von meinem Balkon weckte mich am nächsten Morgen. Zambo bettelte um sein Frühstück.
Ich war noch schlaftrunken und die Ereignisse der Nacht kamen mir wie ein bizarrer Traum vor, doch dann fiel mein Blick auf das Pfefferspray, und ich wusste, dass ich nicht geträumt hatte.
War der sonderbare Junge im Haus? Ich lauschte, hörte jedoch nichts als Zambos Gezeter. Entschlossen schlüpfte ich in meine Sachen, schnappte mir das Pfefferspray und horchte an der Tür. Alles still in der oberen Etage.
Leise schloss ich auf, trat in den Flur und horchte wieder. Nichts. Systematisch durchforstete ich das ganze Haus, um sicherzugehen, dass der Indianer auch wirklich verschwunden war. Ich ging in jedes Zimmer, jede Kammer, blickte in jeden Schrank und unter die Betten. Im Gästezimmer setzte ich mich auf das Bett und roch an der Decke. Salbei und Wildtier.
Er war nicht mehr da, doch statt Erleichterung spürte ich so etwas wie Bedauern. Nun würde ich nie erfahren, wer mein geheimnisumwitterter Gast war, woher er kam und was ihm widerfahren war.
Im Wohnzimmer stellte ich den Fernseher an und schaltete auf einen Regionalsender, aber in den Meldungen kam nichts über einen vermissten Indianerjungen.
Beim Frühstück blätterte ich die Rio Grande Sun von vorne bis hinten durch, um vielleicht irgendeinen Hinweis auf seine Identität zu finden. Eine Zeitungsnotiz über jemanden, der aus einer psychiatrischen Klinik abgehauen war, Eltern, die ihren verstörten Sohn vermissten, oder irgendeine Schießerei in der näheren Umgebung. Doch ich fand nichts dergleichen. Auch meine Suche im Netz blieb ohne Ergebnis.
Schließlich kam mir das rotbraune Tattoo auf dem Unterarm des Jungen in den Sinn, und ich wusste sogar wieder, wo ich es schon mal gesehen hatte: Stern, Halbmond und Handabdruck, diese drei Symbole befanden sich an einer Felswand im Chaco Canyon, einem National Historical Park, rund zweihundert Meilen von hier. Laut David stellte die Felszeichnung vermutlich die Abbildung einer Supernova aus dem elften Jahrhundert dar. Wow.
David hatte an einem sonnigen Apriltag mit Rosaria und mir einen Tag im Chaco verbracht, einem Hochtal, das einst das kulturelle Zentrum der geheimnisvollen und sagenumwobenen Kultur der Anasazi gewesen war, die ihre Blütezeit vor tausend Jahren in den Four Corners hatte, dem Vierländereck, in dem die Bundesstaaten Utah, Colorado, New Mexico und Arizona aufeinandertreffen.
Das plötzliche Verschwinden der Anasazi zweihundert Jahre später gab den Forschern bis heute Rätsel auf. Diese Leute waren in der Lage gewesen, den Verlauf der Sonne, des Mondes und der Gestirne zu errechnen, und sie hatten ihre Dörfer und ihre kilometerlangen Handelsstraßen danach ausgerichtet. Ihr Leben und ihre Zeremonien waren von diesem astronomischen Wissen durchdrungen gewesen. Allerdings waren die Anasazi keineswegs so friedlich, wie man lange Zeit angenommen hatte. Anhand von menschlichen Überresten im Chaco hatte ein Anthropologe Anzeichen für Kannibalismus nachgewiesen.
Etwas war damals gehörig aus dem Ruder gelaufen, und vielleicht war das der Grund für das plötzliche Verschwinden der Anasazi, die ihre geheimnisvollen Städte und sonst nichts als Abertausende Tonscherben, ein paar Knochen und ihre Geheimnisse