War das Fuchsmädchen eine bruja, eine Hexe? Würde sie gleich vor seinen Augen Tiergestalt annehmen und versuchen, ihn mit ihren Zauberkräften zu verwandeln? Es gab Hexen, die mit einem Wort oder einem Blick töten konnten.
Trau keinem Menschen, vor allem keiner Frau!, warnte ihn eine körperlose Stimme in seinem Kopf. Sie können sehr hübsch aussehen, doch wenn du ihnen zu nahe kommst, stehlen sie dein Herz und deine Seele und machen dich krank.
Er fühlte sich krank. Und das kam nicht nur von den Schrammen und Prellungen, die er am ganzen Körper hatte, oder von der schmerzhaften Wunde in seinem Arm. Er hatte das Gefühl, an einer furchtbaren Krankheit zu leiden, an der er unweigerlich sterben musste. Auf seinen Körper hatte er sich bisher immer verlassen können, doch nun spielte er verrückt.
Das seltsame Mädchen hatte ihn verhext, anders konnte er sich nicht erklären, was mit ihm passierte. Der fehlende Atem, das Herzrasen, seine Wortlosigkeit. In Maras Gegenwart konnte er sich nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern.
Plötzlich vernahm er ein hohles Knurren und verspannte sich. Doch das Mädchen verwandelte sich nicht in ein Tier – es war bloß sein leerer Magen, der sich lautstark meldete. Maras Augen sprühten grünes Feuer und ein kehliger, klangvoller Laut kam aus ihrer Brust. Sie lachte über das ganze Gesicht. Ihr Lachen brach den Bann, und er merkte, dass er sich wieder bewegen konnte.
»Du hast Hunger«, stellte sie fest. »Na komm mit, es ist noch was von Lucias köstlicher Hühner-Posole übrig.«
Mara ging ins Haus, und obwohl sie ihm nicht geheuer war, folgte er ihr. Er blieb mit dem Fuß an der kleinen Schwelle unter der Verandatür hängen und kam fast ins Straucheln, so schwach war er vor Hunger und vom Blutverlust.
In der offenen Küche näherte er sich Mara bis auf ein paar Meter. War auf der Hut, für den Fall, dass ihre Freundlichkeit nur ein Trick war. Stumm sah er zu, wie sie einen Topf aus dem Kühlschrank holte und ihn auf den Herd stellte. Schon bald stieg ihm der köstliche Duft von Hühnerfleisch und grünem Chili in die Nase.
Mara schnitt Brot und rührte die Posole um. Dabei wandte sie ihm einige Mal den Rücken zu, und er starrte auf ihr verrücktes Haar, das ohne den Halt der Silberspange wild und rot in alle Himmelsrichtungen springen würde. Er konnte sich nicht erinnern, schon mal jemanden mit solchen Haaren gesehen zu haben. Allerdings konnte er sich ja auch sonst an nicht viel erinnern.
Als es aus dem Topf dampfte, füllte Mara eine Schüssel mit Suppe und stellte sie auf den großen Holztisch. Dazu ein bunter Teller mit drei dicken Scheiben dunklem Brot.
»Na, setz dich schon und hau rein!«, sagte sie und hockte sich mit angezogenen Knien auf einen der Stühle, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches standen. Sie kannte keine Scheu, sah ihm schon wieder direkt in die Augen, sodass er den Blick abwenden musste.
Der köstliche Duft ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und er musste unaufhörlich schlucken. Sein Magen meldete sich erneut mit einem dumpfen Grollen. Außer diesen süßen Bonbons, von denen ihm schlecht geworden war, und dem Katzenfutter, hatte er schon seit Langem nichts Richtiges mehr gegessen. Nun wühlte der Hunger in seinem Magen wie ein Kojote, der eine Maus ausgrub.
Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Ob er das Mädchen direkt anschauen sollte oder besser nicht. Mara nickte ihm aufmunternd zu und er setzte sich. Griff nach dem Löffel und einer Scheibe Brot. Aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Was, wenn das Fuchsmädchen ihm unbemerkt etwas ins Essen getan hatte?
Die Angst nagte an seinen Eingeweiden mit dem Hunger um die Wette und er bekam Schluckauf. Von einer Hexe gereichte Speisen konnten vergiftet sein. Brujas griffen zu jedem Mittel, um Macht über jemanden zu bekommen, dem sie schaden wollten.
Mara lachte schon wieder und ihr ganzes Wesen leuchtete dabei. »Jemand denkt an dich«, sagte sie. »Wahrscheinlich deine Freundin.«
Sie sprach Englisch, trotzdem verstand er manchmal nicht, was sie meinte. Die Sprache der Anglos barg zu viele Fallen, doch Maras Mädchenstimme faszinierte ihn. Sie war wie sonnenwarmer Regen, eine Stimme, die seine Ängste schmelzen ließ. Warum sollte das Fuchsmädchen ihm schaden wollen? Schließlich hatte er sie vor diesem Idioten gerettet, der Dinge getan hatte, die sie nicht wollte und die zu verhindern sie offenbar nicht genug Macht besessen hatte.
Ohnehin: Hexen wirken bei Nacht und er hatte bereits zwei Nächte mit ihr unter einem Dach verbracht, ohne dass sie sich oder ihn verwandelt hatte. Außerdem war er hungrig … nein, ausgehungert traf es wohl besser.
»Worauf wartest du denn noch?«, fragte Mara ungeduldig. »Iss!«
Kayemo beschloss, es zu riskieren. Am ersten Löffel verbrannte er sich Gaumen und Kehle und der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Doch er ließ sich nichts anmerken. Iss!, hatte sie gesagt, also aß er. Biss ins Brot, um den Schmerz zu lindern. Suppe und Brot schmeckten köstlich, viel besser als Katzenfutter und Bonbons. Er vergaß alle Vorsicht und schlang das Essen in sich hinein. Dabei verschluckte er sich und hustete.
»Mach langsam!«, sagte Mara kopfschüttelnd. »Es ist noch genug da.«
Sein Magen füllte sich, und es schien ihm, als füllte sich auch die Leere in seinem Inneren. Der Kokopelli war wieder in seinem Besitz, dadurch kam er sich nicht mehr ganz so verloren vor. Aus irgendeinem Grund wusste er, dass der silberne Anhänger wichtig für ihn war, auch wenn er keine Ahnung hatte, in welchem Zusammenhang.
Auf einmal wurde er gewahr, wie Mara ihn mit ihren grünen Augen unverwandt anstarrte. Blicke, denen er nicht entkommen konnte. Er schluckte schwer an einem Bissen Brot. Was wollte sie von ihm? Warum sah sie ihn so an, wie kein Mädchen einen Jungen ansehen sollte? Er hatte das Gefühl, sie könne ihm bis auf die Knochen sehen.
Hexen können Gedanken lesen und man kann nichts vor ihnen verbergen. Als die körperlose Stimme sich diesmal meldete, hörte er einfach nicht hin.
»Du bist wohl nicht sonderlich mitteilsam, was?«
Er schluckte trocken.
»Wie dem auch sei, ich möchte, dass du eins weißt«, sagte Mara. »Ich bin froh, dass du Ronnie in die Flucht geschlagen hast. Er ist ein Arschloch.«
Arschloch?
»Du verstehst mich doch, oder?«
Die Worte verstand er, aber einiges von dem, was Mara sagte, klang ziemlich verwirrend.
»Verrätst du mir, wie du heißt?«
Wenn er nur gekonnt hätte, dann hätte er ihr seinen Namen gesagt – Kayemo – doch er wusste nicht mehr, wie das ging: sprechen. Seine wunde Zunge lag ihm wie eine Kröte im Mund. Er bewegte die Lippen und benutzte seine Hände, aber Mara sah ihn nur verständnislos an.
»Sag mal, kannst du vielleicht gar nicht sprechen?« Das Grün ihrer Augen wurde dunkel und ihre Stimme war auf einmal voller Mitgefühl.
Rasch schüttelte Kayemo den Kopf. Froh, dass die Fragen nun ein Ende haben würden. Doch Mara stand auf und ging zum Küchenschrank, öffnete eine Schublade und kam mit einem gelben Schreibblock und einem Stift zurück. Beides legte sie vor ihm auf den Tisch.
»Aber schreiben kannst du doch?«
Sie sah ihn hoffnungsvoll an, und weil er sie nicht enttäuschen wollte, schob er die leere Schüssel zur Seite und zog den Block heran.
Kayemo schrieb er und drehte den Block um, damit sie seinen Namen lesen konnte.
»Kayemo.« Maras Gesicht strahlte. »Ein seltsamer Name, aber er gefällt mir. Woher kommt er?«
Woher sein Name kam?
»Ich meine, hat er eine Bedeutung?«, wollte sie wissen. »Mein Name – Mara – hat viele Bedeutungen. Traum zum Beispiel, oder Meer oder einfach nur Frau.
TraumMeerFrau.